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Archiv-Artikel

Der Typ, der Folk und Rock ins Bett zwang

Alte Liebe (5): Am Mittwoch in Hannover gab Bob Dylan das 61. Konzert mit der 20. Never Ending Tour Band. Doch der Mann ist stets anderswo als dort, wo die Öffentlichkeit ihm zu begegnen meint – sonst wär’s ja kein Mysterium

Es prickelt nicht mehr, aber ganz verschwinden wird sie nie, die alte Liebe. Die taz nord würdigt in einer Serie Freizeit- und Kulturvergnügungen, die dereinst hip waren – und heute in veränderter Gestalt weiterköcheln.

Es gilt als unpassend, sogar kleinkrämerisch, in Sachen Liebe mit dem Aufrechnen anzufangen. Wenn es damit losgeht, ist das ein untrügliches Zeichen, dann ist von der Liebe nicht mehr viel übrig, dann ist sie längst entschwunden, etwa nicht? Manche Dylanologen, lässig das Enthusiastische mit dem Buchhalterischen verbindend, sehen das anders. Sie rechnen.

Ihrer Statistik zufolge handelte es sich beim Gastspiel Bob Dylans am Mittwoch in Hannover um das 61. Konzert mit der 20. Never Ending Tour Band, insgesamt um Konzert Nr. 1.789 der gleichnamigen Tour, deren Start auf Juni 1988 katalogisiert wird. Den Horizont noch weiter zurück in die Vergangenheit verschiebt das charmant vorgetragene Intro, das seit 2002 aus den Lautsprechern dringt, bevor Dylan und seine Band zügig die Bühne betreten: „Damen und Herren, bitte heißen Sie willkommen den poeta laureatus des Rock’n’Roll, die Stimme der Verheißung in der Gegenkultur der 60er Jahre, den Typen, der Folk und Rock in ein Bett zwang, der in den 70ern Make Up auflegte und im Nebel des Substanzenmissbrauchs verschwand. Der wieder zum Vorschein kam, um Jesus zu finden. Der abgeschrieben war Ende der 80er, plötzlich wieder Tempo aufnahm und Ende der 90er einige der stärksten Platten seiner Karriere veröffentlichte … Damen und Herren … Columbia recording artist … Bob Dylan!“

Die Schlagwortkette ist ein Zitat aus den Buffalo News, und man darf es als Ironie deuten, wie Dylan es gleichsam strategisch einsetzt. Vielleicht meint er es so: „Keine Ahnung, was das bedeuten soll, aber meinetwegen sagt es ruhig weiter.“ Seit über vierzig Jahren existiert er als mythografische Projektionsfläche, als mysteriöse öffentliche Person. Aber Dylan ist stets anderswo als dort, wo die Öffentlichkeit ihm zu begegnen meint. Ob aus Berechnung, ob aus Intuition, wird man nie so genau wissen, sonst wär’s ja kein Mysterium. Wie langweilig sind doch Eindeutigkeiten!

Inzwischen gibt er auf ganz unpeinliche Weise den Reisenden in der Tradition der „son’n’dance men“, den von Stadt zu Stadt fahrenden Sänger, der aus seinem persönlichen, etliche hundert Kompositionen enthaltenen Songbook vorträgt, Abend für Abend eine andere Zusammenstellung, immer wieder neu arrangiert und gesungen, so dass man sie manchmal kaum noch erkennt.

Seit Dylans letztem Konzert in Hannover vor drei Jahren hat er außer „Chronicles“, dem ersten Band seiner Lebensgeschichten, und „Lyrics“, der erweiterten Ausgabe der Songtexte, auch den Film „Masked & Anonymous“ veröffentlicht. Außerdem wurde und wird die Serie der „Bootleg“-Alben fortgesetzt: Neueste Archiv-Ausgrabungen sind Mitschnitte von 1964 sowie der Soundtrack zu „No Direction Home“, ein Film von Martin Scorsese, der gerade als DVD erschienen ist und mit bisher unveröffentlichtem Material die Jahre bis 1966 dokumentiert.

Dylan räumt auf, sortiert und ordnet den Nachlass, fügt dem kaleidoskopischen Bild eines der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts immer wieder neue Facetten zu, derweil er weiterhin unermüdlich unterwegs ist. Ohne Schnickschnack, ohne Gedöns.

Es war ein herausragendes Konzert. Das Hier-und-Jetzt auf der Basis unverbrüchlicher Traditionen, beschworen von einer großartig aufeinander abgestimmten Band. Und von Liebe war reichlich die Rede, auch in der Zugabe „Don’t think twice, it’s all right“: „I give her my heart but she wanted my soul.“

Dietrich zur Nedden