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Archiv-Artikel

Satt- und Sauber-Versorgung?

Seit gut hundert Tagen ist der Landesbehindertenbeauftragte Joachim Steinbrück (49) im Amt. Im taz-Interview zieht der ehemalige Arbeitsrichter eine erste Bilanz und sagt, was noch passieren muss, damit sein Posten sich selbst überflüssig macht

Von ky

taz: Wie sieht Ihre erste Bilanz aus?

Joachim Steinbrück: Zur Zeit baue ich ein Kommunikationsnetz auf und kläre, wer in den Ressorts Ansprechpartner für Probleme Behinderter ist. Das soll mittelfristig die Arbeit erleichtern und die Wege verkürzen. Parallel dazu nehme ich zahlreiche Einzelanfragen und Beschwerden auf und bearbeite sie. Ich „putze Klinken“ und bin Interessenvertreter für Behindertenpolitik.

Was sind Ihre Aufgaben als Behindertenbeauftragter?

Ich möchte die Benachteiligung behinderter Menschen abbauen helfen und auf eine gleichberechtigte Teilhabe hinwirken. Dazu halte ich Bildung und Erziehung behinderter Menschen für ungemein wichtig – einfach um den Betroffenen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Das rechnet sich auch volkswirtschaftlich. Ich selbst bin ein gutes Beispiel dafür, denke ich. Seit meinem 15. Lebensjahr bin ich blind und zahle doch mit meinen Steuern deutlich mehr, als ich an Unterstützung bekomme. Die Gesellschaft muss sich bewusst machen, dass die Investition in Qualifikation billiger ist als behinderte Menschen später als Sozialhilfeempfänger zu subventionieren.

Wie sind Sie Arbeitsrichter geworden?

Nach meinem Abitur auf einem Internat stellte sich die Frage: Was studieren? Um nichts Brotloses zu lernen, habe ich – auch aus Verlegenheit – Jura studiert.

Wo gab es Schwierigkeiten?

Ich habe gemerkt, dass es mit Mehraufwand verbunden ist, in einer nicht auf behinderte Studierende eingerichteten Umwelt zurecht zu kommen. Dadurch dauert das Studium als Behinderter länger.

Wie haben Sie das Studium organisiert?

Für Blinde gab es kaum Fachliteratur. Ich musste mir viel vorlesen lassen, dafür habe ich mein Landespflegegeld eingesetzt, das ich neben dem Bafög bekam. So ging das einigermaßen. Nach meinem Examen war ich zwei Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni, und musste danach die Erfahrung machen, dass man etwa in einer öffentlichen Rechtsberatung der Auffassung war, dass ein Blinder für den Kontakt mit Menschen doch nicht geeignet sei. Dann habe ich aus lauter Verzweiflung promoviert und bin danach im öffentlichen Dienst untergekommen. Dass hier heute kaum noch Menschen eingestellt werden, ist im übrigen ein Problem für viele behinderte Stellensuchende

Warum?

Wenn der öffentlichen Dienst nicht mehr einstellt, kann er den sozialpolitischen Auftrag, schwerbehinderte Arbeitnehmer zu integrieren, nicht erfüllen. Auf dem Arbeitsmarkt für Schwerbehinderte passieren im Moment Katastrophen. Die Ausgaben für berufliche Rehabilitation erwachsener Behinderter sind zurückgegangen, unter der Umstrukturierung der Agentur für Arbeit hat die Vermittlung schwerbehinderter Arbeitssuchender gelitten. Dadurch ist die Arbeitslosigkeit drastisch angestiegen.

Was muss passieren?

Die Gesellschaft muss sich mit der Frage auseinander setzen, wie sie mit behinderten und alten Menschen umgehen will. Wollen wir eine „Satt-und- Sauber-Versorgung“, die – überspitzt formuliert – an Massentierhaltung erinnert? Oder gehört zur Würde des Menschen auch, dass Schwerbehinderte und Ältere einen Anspruch auf Selbstbestimmung haben?

Was kann sich Bremen überhaupt noch leisten?

Ich sehe die Gefahr, dass man wegen der Haushaltsnotlage nur von einem Tag auf den anderen spart. Und dadurch könnten mittelfristig Kosten steigen. Ich denke aber, dass sich Bremen beispielsweise eine gute Bildung und Erziehung behinderter Kinder und auch barrierefreie öffentliche Gebäude leisten kann und muss.

Warum muss es einen Landesbehindertenbeauftragten geben?

Damit jemand auf die Einhaltung bestehender Gesetze, insbesondere auch des Bremischen Behindertengleichstellungsgesetzes achtet. Außerdem sitzen in vielen Gremien nicht-behinderte Vertreter verschiedener Verbände, die sicher gute Arbeit machen. Aber es reden häufig Nicht-Behinderte über die Interessen Behinderter. Und die können wir selbst als Experten in eigener Sache häufig besser formulieren. Erst wenn bei den Menschen in Politik und Verwaltung immer auch automatisch die Anliegen behinderter Menschen berücksichtigt werden, braucht man keinen Landesbehindertenbeauftragten mehr. Diese Frage stellt sich nach meiner Einschätzung aber frühestens in zehn bis 15 Jahren. Fragen: ky

Joachim Steinbrück ist unter Tel.: 361-18181 erreichbar.