: Der Temperaturfühler
Wenn der Wind zu stark über den Brocken stürmt, steigt Ingo Nitschke auf das Dach der Wetterstation und nimmt die Daten per Hand. „Wir schwanken von einem Extrem ins andere“, sagt er über das Wetter 2015
Aus Wernigerode Erik Peter
Nur für einen Wimpernschlag ist die Wetterwarte auf der Spitze des Brockens zu erahnen. Dann verschwinden selbst die Umrisse des massiven Turms wieder vollständig im Nebel, der wie aus einem Schornstein geblasen kommt. Der eisige Wind peitscht den grauen Schleier über das Gipfelplateau des höchsten Berges im Harz. Die Sichtweite beträgt nur wenige Meter, ehe der mit dunklen Holzplanken verkleidete Turm wieder für einen Augenblick auftaucht, fast wie eine Fata Morgana.
Im Beobachtungsraum der Wetterstation schaut Ingo Nitschke aus dem Fenster wie auf eine weiße Wand. Ein Mann wie ein Baumstamm: hochgewachsen und kräftig. Die grauen, lockigen Haare und sein heller Vollbart sehen aus, als hätten sie schon vielen Stürmen getrotzt. Das gegenüberliegende Brockenhotel kann er durch den Nebel ebenso wenig erkennen wie den Bahnhof, an dem die historische Brockenbahn mit den Dampfloks im Dreiviertelstundentakt ein paar unentwegte Besucher auswirft. Ein Geräusch wie Wolfsheulen kündigt ihre Ankunft an. „Ist ja mal was Neues, dass man nichts sieht“, sagt Nitschke und grinst. Der Brocken hat 306 Nebeltage im Jahr – so viele wie nirgendwo sonst in Europa.
Nitschke schaut schon seit mehr als 30 Jahren aus den Fenstern, hier oben in der fünften und damit obersten Etage der Warte. Geboren 1962, wohnte er in seinen ersten Lebensjahren in dem Wetterturm, seine Eltern arbeiteten hier für den meteorologischen Dienst der DDR. Seine Schulzeit verbrachte Nitschke am Fuß des Berges, in Schierke, einem Ortsteil von Wernigerode, in dem er noch heute lebt.
Mit 18 Jahren durfte er wieder hinauf, auf den damals abgeriegelten Berg, über den die innerdeutsche Grenze verlief. Nitschke beendete seine Ausbildung zum Meteorologen, schrieb in der Wetterwarte seine Abschlussarbeit zum Thema Wind – und blieb. Über seine Rückkehr im Februar 1980 auf das von einer Betonmauer umgebene Gipfelplateau sagt er: „Ich war geschockt, als ich das gesehen habe.“ Bis zur Wende waren hier oben nur „Grenzer, Stasi, Russen, DDR-Fernsehen und wir“.
„Die Roten“ sagt Nitschke, wenn er über die drei zuerst genannten Gruppen spricht. Am 3. Dezember 1989 forderten Demonstranten die Öffnung der Tore auf dem noch immer abgeriegelten Berg. Nitschke grüßte vom Turm der Warte mit einem Bettlaken: „Mauer weg!“, hatte er drauf geschrieben. Das Laken hat er sich aufgehoben.
Mit Nitschke arbeiten noch sechs Kollegen auf dem 1.141 Meter hohen Gipfel. Tagsüber sind sie zu zweit, den Nachtdienst bestreiten sie alleine. Ab dem Jahr 2020 will der Deutsche Wetterdienst (DWD) auf die Meteorologen verzichten, elektrische Sensoren sollen dann ihren Dienst übernehmen. „Die Welt spricht vom Klimawandel und dann macht man so was?“, fragt Nitschke. Aus seiner tief-rauen Stimme spricht Verständnislosigkeit.
Nitschkes Arbeitsplatz bietet die extremsten klimatischen Bedingungen deutschlandweit, die elektronischen Messgeräte halten dem nicht stand, ist der Meteorologe überzeugt. Der Brocken ist die höchste Erhebung im norddeutschen Raum. Die Winde des Atlantiks treffen ungehindert auf den Berg, heftiger weht es nirgends. Ab 1.100 Metern wird es daher baumlos, auf der dem Wind zugeneigten Südwestseite wachsen schon bei 900 Metern keine Bäume mehr. Auf dem Gipfelplateau halten sich ein paar mickrige Fichten, deren Äste der Wind in eine Richtung gebogen hat. Mäßige 70 km/h schnell ist der Wind an diesem Tag. Doch er reicht aus, um aus den zwei Grad Celsius eine gefühlte Temperatur von -16 Grad zu machen. Die höchste hier je gemessene Windgeschwindigkeit betrug 263 km/h, bei Windstärke 12 sind es noch nicht einmal halb viel.
Wetterdaten aus 200 Jahren
Seit 200 Jahren werden auf dem Brocken Wetterdaten gesammelt. Die wissenschaftliche Station nahm 1895 ihre Arbeit auf. Mit einer kurzen Unterbrechung während des zweiten Weltkriegs werden seitdem Temperatur, Luftdruck, Windstärke, Wolkenbeschaffenheit, Sichtweite, Niederschlagsmenge und Schneehöhe gemessen. Im holzvertäfelten Raum im Erdgeschoss des Turms zeigt Nitschke die Aktenordner mit handgeschriebenen Aufzeichnungen dieser Jahre. Dann klappt er einen Wandschrank auf, ein Sofa erscheint. Als Kind schlief er dort.
Die Brockenwarte ist eine von zehn Klimareferenzstationen des DWD. Hier werden die Ergebnisse zweier Messverfahren verglichen: der konventionellen, seit Beginn des 19. Jahrhunderts eingesetzten Technik, und der modernen, automatisch arbeitenden Sensoren. Das Herzstück der Warte, die Klimahütte auf dem Dach des Turms, gibt es daher zwei Mal: weiß gestrichene Lamellenkästen aus Holz. Im linken werden Temperatur und Luftfeuchtigkeit konventionell gemessen, rechts sind die elektronischen Fühler.
Die alten Apparate, etwa der Sonnenscheinautograf oder der Thermohygrograf, liefern seit 120 Jahren kontinuierliche Messreihen. Abweichungen durch die neue Sensorik können so leicht ausgemacht werden. Nitschke und seine Kollegen machen die Basisarbeit; sie liefern jenes Material, das für die Klimaforscher und Politiker auf dem Klimagipfel von Paris die Grundlage bildet.
Nitschke ist vernarrt in „verrücktes Wetter“. Auf dem Brocken mag er es am liebsten „beim brüllenden Orkan, wenn der Wetterturm zu wackeln beginnt“. Aber auch über Sommergewitter und Sichtweiten von bis zu 200 Kilometer kann er sich freuen. Bis ins Erzgebirge reicht dann der Blick. So verwurzelt Nitschke in der Region ist, mit dem Ausflugsziel Brocken kann er wenig anfangen: „Was soll hier schön sein? Der baumlose Gipfelbereich mit den alten Stasi-Hinterlassenschaften, die Garagenbaracken, die Schützenfestgarnitur, die Erbsensuppe beim Brockenwirt?“ Viele Touristen seien von ihrem Besuch enttäuscht, sagt er. „Ich finde es schön, wenn hier keiner ist.“
Hinein in einen langen Monolog klingelt das Telefon. Nitschke greift zum Hörer, wendet sich einem Computer zu. Er hat seine Eingabe vergessen. Alle 30 Minuten muss er den neuesten Stand an die DWD-Zentrale in Offenbach melden. Den elektronischen Messungen von Wind, Luftdruck und Temperatur muss er seine Beobachtungen hinzufügen. Auf dem Bildschirm sind zwei Dutzend Zahlen aus je sechs Ziffern zu erkennen. Nitschke tippt eine 9 ein – der Himmel ist nicht zu erkennen. Die automatisch gemessenen Werte überprüft er auf Plausibilität. Stimmt die gemessene Sonnenscheindauer oder verzerrt ein Eisblock, der sich um das Messgerät gebildet hat, das Ergebnis? An diesem Tag ist wenig zu tun. Noch wartet der Brocken auf Schnee und Eis.
Klimawandel ist messbar
„Das Jahr 2015 könnte ein neues Rekordjahr werden“, sagt Nitschke. „Fast in jedem Monat lag die Temperatur über dem Durchschnitt.“ Im ersten gemessenen 30-Jahres-Zeitraum ab 1836 lag die mittlere Temperatur noch bei 2,4 Grad Celsius. Für die vergangenen 30 Jahre lag sie bereits bei 4 Grad. Dieses Jahr vermutlich deutlich darüber. Der Klimawandel ist messbar.
„Wir schwanken von einem Extrem ins andere“, sagt Nitschke. 2015 gab es den wärmsten April seit Beginn der Aufzeichnungen und den niederschlagreichsten November. Am 3. November lag die Temperatur bei 19,8 Grad, so hoch wie nie zu dieser Jahreszeit. Die Auswirkungen lassen sich beobachten. Auf dem Brocken haben sich Pflanzen und Tiere angesiedelt, die es früher nicht gab, etwa eine Falterart aus den Alpen.
Die Bundesbehörde DWD glaubt auf Menschen auf der Station verzichten zu können. Nitschke reibt mit seinem rechten Daumen über Zeige- und Mittelfinger. Es muss gespart werden. „Wissenschaft und Forschung können nie marktwirtschaftlich sein“, fügt er hinzu. Als Beamter dürfe er sich eigentlich nicht äußern. Doch was er von der Entscheidung hält, ist so offensichtlich, dass er gar nicht aussprechen muss, für wie wenig durchdacht er sie hält.
Viele der automatischen Geräte funktionieren auf dem Brocken nicht – oder nur, weil Menschen sie warten. Ein Großteil ihrer Arbeit bestehe darin, die Sensorik am Laufen zu halten, sagt Nitschke. Im Winter müssen etwa die Niederschlagsmesser, große metallene Trichter, ständig von Eisablagerungen befreit werden, die bis zu zweieinhalb Meter dick werden können. Auch für die Stürme sei die Technik nicht gemacht. „Die funktioniert vielleicht auf der Zugspitze, aber nicht hier“, sagt Nitschke. Bei besonders hohen Windgeschwindigkeiten steht er auf dem Dach der Wetterstation, um mit der Hand zu messen. Lange kann Nitschke über die Mängel der automatischen Messmethoden sprechen, die „Wunder-Technik“ wie er sagt.
Die Frage wird also sein: Braucht man die Daten oder nicht? „Für das Wissen über den globalen Klimawandel reichen wohl auch die Daten aus Wernigerode“, gibt Nitschke zu. Doch dass die Tradition der Wetterbeobachtung, auch der persönlichen Einschätzung über Wolkenart und Sichtweiten zu Ende gehen soll, dafür hat er kein Verständnis. 120 Jahre Tradition, unter die einfach ein Schlussstrich gezogen werde. Und es ist ja auch seine Geschichte, die seiner Familie. Was er dann macht, wenn es soweit ist? „Die Hände falten und sitzen bleiben“, sagt Nitschke. Er wird nicht nach Offenbach gehen, keinen Bürojob machen. Die Stürme des Brockens werden ihn halten.
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