piwik no script img

Der fragile Sinn für Hoffnung

Kunst Mit „When the heart goes Bing Bam Boom“ richtet der Istanbuler Kunstraum Arter der bosnischen Künstlerin Šejla Kamerić eine große Retrospektive aus

von Ingo Arend

Was würde passieren, wenn ein europäisches Land wirklich seine Grenze schlösse? In San Marino konnte man es vor dreizehn Jahren studieren. Am 19. Juni 2002, morgens um 7 Uhr, schloss sich für genau eine halbe Stunde die Grenze zwischen dem Zwergstaat, der nicht der EU angehört, und seinem Nachbarn Italien.

Was als Kunstaktion gedacht war, endete in einem echten kleinen Volksaufstand. Erst empörten sich die Menschen über die Verkehrsblockade. Bis sich die Diskussionen zwischen dem Grenzzaun in einen lautstarken Protest gegen Grenzen überhaupt verwandelten.

„Closing the border“, das Video, das die bosnische Künstlerin Šejla Kamerić von ihrer Intervention im öffentlichen Raum machte, sollte man vielleicht beim nächsten CSU-Parteitag zeigen. Dann würden sich die politischen Populisten ihre Slogans womöglich noch einmal überlegen. Im Istanbuler Kunstraum Arter, wo der Streifen derzeit zu sehen ist, fand die Arbeit jedenfalls lebhaftes Interesse beim Publikum.

Die erste große Retrospektive von Kamerić überblickt 15 Jahre. 36 Arbeiten der 1976 in Sarajevo geborenen Künstlerin hat die Kuratorin Başak Doğa Temür in einem klug komponierten Parcours in dem Kunsthaus der Industriellenfamilie Koçauf in Istanbuls beliebter Einkaufsmeile İstiklâl Caddesi versammelt. Und doch meint man plötzlich mitten in den Konfliktzonen des heutigen Europa zu sein: Flucht, Krieg und Bürgerkrieg, das schikanöse Grenzregime, die Bedrohung der Freiheit.

Die problematischen Selek­tions­mechanismen, die dabei angewandt werden, hatte Kamerić schon 2000 bei der Manifesta 3 in Ljubljana thematisiert. Fußgänger, die die berühmte Tromostovje-Brücke überqueren wollten, mussten sich entscheiden, unter welchem Schild sie passieren wollten: „EU-Citizens“ oder „Others“.

Identität, Rolle, Herkunft sind für Kamerić freilich keine bloß akademischen Fragen. Sie hat sie am eigenen Leib zu spüren bekommen. Bekannt geworden ist sie 2003 mit ihrer Arbeit „Bosnian Girl“. Bei ihren Recherchen zu dem Völkermord an den bosnischen Muslimen in Srebrenica stieß sie auf das Graffiti „No teeth . . .? A mustache . . .? Smel like shit . . .? Bosnian Girl!“, das ein unbekannter niederländischer Soldat der berüchtigten Unprofor-Einheiten an einer Baracke hinterlassen hatte.

Kamerić übertrug den rassistischen Spruch auf ein Plakat, unterlegte ihn mit ihrem eigenen, besonders fotogenen Porträt. Die Arbeit illustriert exemplarisch, wie die gelernte Grafikdesignerin mithilfe der Werbeästhetik nicht nur nationale Stereotype unterläuft. Inzwischen ist das Plakat zur Ikone junger Frauen auf Facebook .

Immer wieder betont Kamerić, dass es nicht der Bosnienkrieg mitsamt seinem Völkermord allein war, die sie zur Künstlerin werden ließ. Ihr Vater starb während der Kämpfe. Ein Foto von 1993 zeigt die 17-Jährige im schwarz ausgebombten Sarajevo. Wie stark ihr diese Erfahrung heute noch unter der Haut sitzt, zeigt „June is June everywhere“ aus dem Jahr 2013.

Die Arbeit hat Kamerić nicht zufällig mit „Selbstporträt“ untertitelt. Eine Wand des Kunsthauses ist mit Bildern derselben Schwarzweiß-Fotografie übersät. Sie zeigt die Einschusslöcher auf der Hauswand, auf die sie von ihrem Schlafzimmer im Haus ihrer Eltern in Sarajevo schaute.

„Closing the border“, das Video der Intervention der bosnischen Künstlerin Šejla Kamerić , sollte man vielleicht beim nächsten CSU-Parteitag zeigen

Kein Wunder, dass sie sich darangemacht hat, dieses dunkle Kapitel europäischer Geschichte aufzuarbeiten. Im Keller von Arter kann man das 85 Stunden umfassende Videomaterial sichten, das sie während einer zweijährigen Recherchereise zu Massengräbern, Konzentrationslagern und Augenzeugen in Bosnien unter dem Vergil-Spruch „Ab uno disce omnes“ – Von einem lernen wir alles – zusammengetragen hat.

Trotz dieses Ausflugs ins Dokumentarische – ihre Kunst gerät Kamerić nie zur klassischen Antikriegs- und Erinnerungsästhetik, sondern gewinnt ihnen einen paradoxen Moment von Schönheit ab. In der Arbeit „Fragile Sense of Hope“ überführt sie die Kreuze aus Plastikstreifen, mit denen Bewohner von Spannungsgebieten ihre Fenster vor Explosionen schützen, in eine abstrakte Form: Gold auf Glas.

„When the heart goes Bing Bam Boom“ – der Titel der Ausstellung stammt von einem Punkrocksong und ruft die schma­le Grenze zwischen Hoffen und Bangen auf. Auf ihr balancieren seit Jahrzehnten auch die Menschen in der Türkei. Die politische Botschaft von Kamerić’ neuester Arbeit „Li­bert­y“ in dem großen Schaufenster des Kunsthauses dürften sie auf Anhieb verstehen.

Die sieben weiß strahlenden Neonbuchstaben locken mit der Hoffnung auf dieses fragile Gut. Die Stacheln, mit denen sie bewehrt sind, zielt auf die Ausrede, mit der alle Mächtigen es zu zähmen suchen: Freiheit muss eben auch beschützt werden.

Bis 28. Februar, Arter, Istanbul. Katalog 20 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen