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Ein Niendorfer Einkaufszentrum bietet Flüchtlingen Abwechslung. Aber die Hürden für einen Small Talk sind hochUnter’m Weihnachtsbaum

AM RAND

Klaus Irler

Auch in Niendorf gibt es einen öffentlichen Weihnachtsbaum. Er steht im Tibarg-Center, das ist ein Einkaufszentrum in der Fußgängerzone entlang des Tibarg, U-Bahn-Haltestelle Niendorf-Markt. Der Baum ist aus Plastik und ungefähr zwölf Meter hoch, sodass er sich schön in die Galerie des Einkaufszentrums fügt. Neben der Spitze des Baums hängt ein Schlitten mit Rentieren und Nikolaus. Am Fuß des Baumes laufen Rentiere Schlittschuh und tanzen miteinander. Alles bewegt sich und glitzert.

Um den Baum herum gibt es Sitzgelegenheiten, die stark frequentiert sind. Senioren hängen da ab, Eltern zeigen ihren Kindern die Rentiere, Büromenschen trinken einen frisch gepressten Fruchtsaft. Dazwischen sitzen immer wieder Leute Anfang 20 und beschäftigen sich mit ihren Smartphones. Irgendwas ist ungewöhnlich an ihnen. Ich sah es erst auf den zweiten Blick: Es sind ihre Klamotten, die nicht recht zur Witterung passen. Und es ist ihre Körperhaltung: Wenn sie zu zweit da sitzen, dann sitzen sie eng beieinander.

Mir wurde klar, dass diese jungen Leute aus der Flüchtlingsunterkunft kommen, die sich in einer Parallelstraße zur Fußgängerzone befindet. Die Flüchtlingsunterkunft besteht aus Containern, die auf einem Parkplatz aufgestellt worden sind. Die Container machen nicht den Eindruck, als würde man sich gerne den ganzen Tag darin aufhalten. Der Tibarg-Center dagegen bietet Bewegungsfreiheit, er ist warm, belebt und es gibt dort einen Zugang zu kostenlosem W-LAN.

Mir gingen sofort viele Fragen durch den Kopf, als ich die Leute da sitzen sah. Wo kommst Du her? Wie war die Flucht? Warum bist Du geflohen? Was hast Du jetzt vor? Wie lange wirst Du im Container leben? Und so weiter.

Ich stellte keine einzige dieser Fragen, weil es mir übergriffig vorgekommen wäre, jemanden einfach so in eine Art Kreuzverhör zu nehmen. Trotzdem war ich neugierig. Ich suchte nach einem Small-Talk-Thema und da fiel mir nichts Besseres ein als der Baum. „What do you think about it?“ fragte ich einen jungen Mann und er sagte: „It’s nice. It’s christmas. It’s famous all over the world.“

Wir konnten das Gespräch nicht vertiefen, weil sein Englisch schlecht und das Thema schnell auserzählt war: Natürlich kennen auch die Leute aus dem Nahen und Mittleren Osten Weihnachten und wundern sich nicht, wenn ein Rentierschlitten im Treppenhaus eines Einkaufszentrums hängt. Sie wundern sich auch nicht über die Senioren, die mit Blick auf den Baum Wein trinken. Und auch der Stand der Aids-Hilfe wird sie nicht wundern, weil er nicht anders aussieht als der von der Telekom, wo es Handyverträge gibt.

Was mich beschäftigte war, wie hoch die Hürde für einen Small Talk ist. Selbst wenn ein Gespräch nicht sofort an Sprachkenntnissen scheitert, haben wir keine Ahnung von der Lebenswelt der anderen. Wir haben kein gemeinsames Thema und begegnen uns nicht auf Augenhöhe. Wenn wir es hinkriegen, das zu ändern, stehen uns interessante Zeiten bevor. Wenn nicht, wird’s schweigsam – auch an Weihnachten.

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