Die Graffiti am Stadtrand sind nicht so kunstvoll wie die in Altona. Aber ihre poetische Kraft ist groß: Mit dem Mondgott im Grootseepark
AM RAND
Klaus Irler
Normalerweise ist es so, dass ich erst ins Internet und dann in die Welt schaue. Ich plane meine Wege am Bildschirm, suche nach Staus und Verspätungen, prüfe die Öffnungszeiten und lese die Nachrichten. Wenn ich wissen will, wie kalt es draußen ist, gehe ich nicht vor die Tür, sondern auf eine der Wetterseiten im Internet. Nur wenn ich wissen will, ob es gerade regnet oder nicht, schaue ich noch aus dem Fenster. Auch das wird sich vermutlich noch ändern.
Wenn ich dann rausgehe, weiß ich viel über das, was mich da erwartet. Umso erfreuter bin ich über alles, was mich überrascht im öffentlichen Leben. Zum Beispiel die Graffiti, die es sogar hier in Niendorf-Nord gibt. Sie sind nicht so kunstvoll wie die an den Wänden des Altonaer Güterbahnhofs. Aber sie sind da, und ich laufe daran vorbei und frage mich: Wer hat das geschrieben, gepinselt oder gesprayt? Und was soll es mir sagen?
Über einer Bank im Grootseepark steht zum Beispiel einmal quer mit Farbe und Pinsel geschrieben: „Mondgott“. Auf der Bank hocken oft Jugendliche, und ich vermute, ihr Mondgott stammt aus der Popkultur, aus einem Buch, Film oder Rollenspiel. Vielleicht ist der Mondgott in dieser Erzählung der nette Bruder des Sonnengottes und dafür da, unsere Seelen zu bräunen. Vielleicht aber auch nicht.
Gut, denke ich, soll es so sein: Schlag’nach bei Google. Einen Mondgott, steht da, gab es in allen möglichen Kulturen und Ausprägungen. Sehr populär war er in Mesopotamien und Syrien-Palästina von der Bronzezeit bis in die römische Zeit. Das Niendorf-Nord von heute ist da weit weg. Der Niendorfer Mondgott bleibt rätselhaft.
Das gleiche Problem gibt’s mit der Abkürzung „BMD“. Die steht in Niendorf-Nord an gefühlt jedem zweiten Verteilerkasten, und zwar in diesem Zusammenhang: „Fick BMD“. Das Internet kennt sehr viele Bedeutungen für die Abkürzung „BMD“. Sie reichen von „Bund der Mitteldeutschen“ über „Bachelor Master Doktorat“ bis zu „Bojewaja Maschina Dessanta“ –das ist eine Produktlinie russischer Panzer. Vielleicht ist der gefickte BMD einer pazifistischen Seele entsprungen. Vielleicht aber auch nicht.
Besonders gut gefallen hat mir ein Graffito, das mit Kreide auf den Bürgersteig vor der U-Bahnhaltestelle geschrieben war. „Kreide verschwindet – Grünflächen auch“, stand da. Mir gefielen die Melancholie und der charmante Grammatikfehler, mit dem die Grünflächen an die Kreide angebunden sind. Außerdem gefiel mir die Poesie im Unbestimmten: Ich weiß nicht, welche Grünflächen gemeint sind, aber grün ist die Hoffnung, vor allem an einem dunkelgrauen Novembertag, an dem grüne Farbe höchstens aus Bildschirmen kommt.
Nach ein paar Tagen Regen war das Graffito tatsächlich wieder verschwunden. Es hat sich durch seine Auslöschung selbst beglaubigt, bis dahin aber dem Fragilen Aufmerksamkeit verschafft. Ich habe es vorher noch fotografiert. Ich könnte das Foto ins Internet stellen. Tue ich aber nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen