: Wetten auf schnelle Vögel
Eine Ausstellung auf dem Gelände der Henrichshütte in Hattingen erzählt die Geschichte des Brieftaubensports. Dabei geht es um viel Geld, vor allem aber um die Gemeinschaft
von REINER LEINEN
„Komm, Hans, komm!“, hieß der allabendliche Lockruf der 1950er-Jahre, wenn die Taubenväter des Ruhrgebiets ihre geliebten Brieftauben an die Wassertränken riefen, auch wenn die Vögel von ihren Wettflügen heimkehrten und es um Sekunden ging. Ihnen, den „Rennpferden des kleinen Mannes“, ist die Ausstellung „Das Glück fliegt in der Luft“ gewidmet, die das Westfälische Landesmuseum in der Henrichshütte Hattingen zeigt. Mit hohem Wiedererkennungswert für jene, die mit dem Brieftaubensport groß geworden sind, und hilfreich und eindringlich auch für diejenigen, die Einblick gewinnen wollen in eine ihnen fremde, womöglich als skurril empfundene Welt.
Die Ausstellung zeigt facettenreich einen Abriss der über 120-jährigen Geschichte des Taubensports mit all seinen Reizen, Verlockungen und Verführungen, führt mit historischen Fotos, Filmen und zahlreichen Leihgaben aus Vereinen und Museen eine aussterbende Passion als Teil der Alltagskultur des Ruhrgebiets vor Augen.
Ursprünglich, so belegt die Ausstellung, standen Brieftauben im Dienst der Nachrichtenübermittlung, setzten Militärs und Nachrichtenagenturen auf das Durchhaltevermögen und den phänomenalen Orientierungssinn der Tauben – der bis zum heutigen Tage trotz mannigfacher Theorien, die etwa den Sonnenstand oder den Erdmagnetismus als Erklärungsmuster anführen, noch nicht verlässlich ergründet ist. Noch im Zweiten Weltkrieg überbrachten Tauben schriftliche Botschaften, wurden aber auch, mit Kleinstkameras bestückt, zum Ausspionieren feindlicher Stellungen eingesetzt. Dann Mitte der 1960er-Jahre erlebte der Brieftaubensport seine Blütephase, deutschlandweit gab es mehr als hunderttausend Züchter, wobei die Hochburgen in den Bergarbeitersiedlungen des Saarlands und des Ruhrgebiets zu finden waren. Den Züchtern waren die bei Wettflügen zu erringenden Preisgelder Verlockung genug, boten sie doch Gelegenheit, den oft kargen Lohn industrieller Arbeit aufzufrischen. Mehrere zehntausend Mark Einsatzgeld waren dabei keine Seltenheit.
Es wirkten aber jenseits allen monetären Denkens wohl auch ganz andere Motive: Der Bergmann aus Gelsenkirchen oder der Stahlkocher aus Dortmund waren nun einmal schon rein finanziell oft gar nicht in der Lage, selbst auf Reisen zu gehen, und erfüllten sich womöglich ihre versteckten Träume von Freiheit und Abenteuer, indem sie ihre Tauben reisen und fliegen ließen und sich auf diese Weise kleine Fluchten aus einem ansonsten entbehrungsreichen Leben inszenierten.
Zudem waren den Brieftaubenzüchtern – vorrangig den Männern – ihre Zusammenkünfte in Gastwirtschaften und Vereinsheimen ein tragfähiges soziales Netz: Hier konnten sie ihresgleichen treffen, sich austauschen und fachsimpeln.
Dass der Taubensport tatsächlich eine Wissenschaft für sich ist und nur minutiöse Kenntnisse über das Wesen der Tiere zum Erfolg führen, zeigt die Ausstellung anhand von Züchterinterviews, die an mehreren Stellen des Ausstellungsrundgangs zu hören sind und einen authentischen Blick auf die Gedanken- und Gefühlswelt des „Taubenvatters“ freigeben. Hier hören wir von Methoden zur „Steigerung des Heimkehrwillens“, von medizinischer Rundumbetreuung und dem technischen Fortschritt bei der Zeitmessung: Während in den Anfängen des Taubensports das heimkehrende Tier noch eingefangen und – zu Fuß! – so schnell wie möglich zu einem zentralen Sammelpunkt gebracht werden musste, wurde die Zeitmessung über die Jahrzehnte hinweg mit dem Einsatz unterschiedlichster Konstatiersysteme immer mehr verfeinert. Heute tragen Brieftauben einen Mikrochip, und ihre Flugzeit wird sekundengenau elektronisch und weitgehend fälschungssicher erfasst.
Doch die technischen Neuerungen haben durchaus ihre Schattenseiten. Die moderne Technik ist sehr kostspielig, sodass nicht wenige ältere Züchter die Investitionen scheuen und sich vom Taubensport zurückziehen. Hinzu kommt, dass auch im Brieftaubensport unsaubere Methoden Einzug gehalten haben: Seit Jahren erschüttert die Diskussion über den Einsatz unerlaubter Dopingmittel die Szene, und nicht wenige sagen dem Taubensport ein baldiges Ende voraus.
Westfälisches Industriemuseum Henrichshütte Hattingen Werksstr. 31–33, 45527 Hattingen, bis 23. 12.: Di. bis So. 10 bis 18 Uhr, Fr. bis 21.30 UhrEin Rahmenprogramm bietet zusätzliche Sonderveranstaltungen wie etwa am 20. 11. um 11 Uhr ein Streitgespräch von Taubenzüchtern und Naturschützern zum Thema „Tauben in der Stadt“