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„Wenn Sie so weit sind, können wir loslegen“

ABSCHIEDSie war gegen den Selbstmord ihrer Mutter – und begleitete sie doch bis zum Ende

Es fing im September 2013 an. Meine Mutter lallte ein bisschen. Mein Bruder und ich fragten, sag mal, trinkst du tagsüber Wein? Diese Sprachstörungen verstärkten sich schnell, sie konnte nicht mehr schlucken, musste ständig husten, konnte den Speichel nicht mehr kontrollieren. Im Dezember bekamen wir die Diagnose ALS.

Da war meine Mutter 75 Jahre alt. Sie spielte zweimal die Woche Tennis, ging dreimal die Woche ins Schwimmbad, fuhr nur Fahrrad, traf sich mit Freunden. Sie hatte nur mal Probleme mit verengten Gefäßen. ALS ist ein Todesurteil und so wurden wir im Krankenhaus auch behandelt. Ist ja eh bald vorbei, dachten die Ärzte und schickten uns nach Hause.

ALS ist eine Art eine Umkehr von Alzheimer. Der Körper gibt auf, aber der Geist funktioniert. Irgendwann kann nicht mal mehr eine Fliege von der Nase verscheuchen und ist dabei klar im Kopf. Dieses Ende vor Augen hat meine Mutter entschieden, dass sie das nicht will und übers Internet Exit kontaktiert. Sie musste für 150 Euro Mitglied in der Gesellschaft für humanes Sterben in Deutschland werden, die den Kontakt zu Exit vermittelt. Ende April reiste eine angeblich ehrenamtliche Mitarbeiterin aus Düsseldorf an. Sie fragte: Wann wollen Sie denn? Als ob man sich dazu verabredet, morgen einkaufen zu gehen. Exit wollte 6.000 Euro haben. Mein Bruder ist Bestatter und wir wollten meine Mutter in Deutschland beerdigen, da kamen noch mal etwa 3.000 Euro dazu.

Mein Bruder hat gesagt, ich kann meinen Hund einschläfern, aber ich bin nicht dabei, wenn meine Mutter sich tötet. Ich habe versucht, sie davon abzubringen, aber sie blieb entschlossen. Ich entschied mich, meine Mutter in der schwersten Minute ihres Lebens nicht allein zu lassen. Wir bekamen eine E-Mail und dann stand da ein Datum: 23. Juni.

Wir sind nach Bern geflogen, haben im Hotel übernachtet, bekamen eine Telefonnummer, riefen da an, man nannte uns eine Adresse. Das war so eine Art Laden, ein Vorzimmer und ein Raum mit einem Bett, wohin wir uns zurückzogen. Die überprüften dann alle Papiere, ein offensichtlich pensionierter Arzt kam und stellte fest, dass es der Wunsch meiner Mutter ist, zu sterben und dann hieß es: „Wenn Sie so weit sind, können wir loslegen.“

Normalerweise bekommt man ein Betäubungsmittel zu trinken, das zum Tod führt. Meine Mutter konnte nicht schlucken und so haben die Helfer das an die Magensonde angeschlossen, aber sie musste den Hebel selbst öffnen, damit es ein Selbstmord ist. Bei meiner Mutter hat es kaum drei Minuten gedauert. Man merkte, wie das Leben aus ihr wich.

Wir hatten uns im Zimmer noch ein paar Stunden ausgetauscht und sie schrieb irgendwann, sprechen konnte sie ja nicht mehr: Jetzt ist alles gesagt. Man lässt das zu, obwohl man schreien will: Nein! Ich habe hinterher drei Stunden an ihrem Bett gesessen, weil ich es nicht fassen konnte. Aber ich bin nach wie vor froh, dass ich im letzten Moment ihre Hand halten konnte. Protokoll: Ilka Kreutzträger

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