: Keine Spur von Leseunlust
BUCHMARKT Seit vier Jahrzehnten präsentiert die Oldenburger Kinder- und Jugendbuchmesse Kibum die jährlichen Neuerscheinungen. Nach Zauberern und Vampiren ist bei den Kleinen wieder Realismus angesagt
von Jan-Paul Koopmann
Sophie mag das Ungeheuer nicht. Wo denn hier die Mädchenbücher stünden, will die Achtjährige im rosa Pulli von ihrer Schwester wissen, doch die weiß es auch nicht. Denn anders als auf dem Spielzeugmarkt, wo von Lego bis zum Überraschungsei heute spezielle Mädchenlinien gefahren werden, scheint dieser Spuk bei Kinderbüchern noch nicht umzugehen. Man schreibt sie doch eher lieber für beiderlei Geschlecht. Auch Sophie kann das verschmerzen, greift nach einem „Fünf Freunde“ Band und macht sich im Gewusel zwischen all den anderen Kindern, Schulklassen, Schriftstellern und Musikern auf die Suche nach ihrem Vater – der soll ihr vorlesen.
Die jährliche Kinder- und Jugendbuchmesse (Kibum) wird seit vier Jahrzehnten von der Gastgeberstadt Oldenburg und der örtlichen Carl von Ossietzky Universität ausgerichtet. Doch die Veranstaltung strahlt weit über die Stadtgrenzen hinaus. Es ist immerhin Deutschlands größte nichtkommerzielle Kinderbuchmesse. Verlagsverkaufsstände gibt es hier in den Räumen des Peter Friedrich Ludwigs Hospitals nicht. Dieses ehemalige Krankenhaus, das nicht nur Kinder auf den ersten Blick auch für ein Schloss halten könnten, ist während der Kibum eine Bücherei – mit Leseecken und einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm.
Die kleinen MessebesucherInnen bedienen sich aus den Regalen und lesen oder informieren sich. Der zehnjährige Marcus zum Beispiel fotografiert eifrig Buchcover mit seinem Handy – „für Weihnachtsgeschenke“. Seine Mutter hat ihn eben lautstark ermahnt, das Buch nicht in seiner Umhängetasche verschwinden zu lassen. Bertrand Santinis „Jonas, der mechanische Hai“ (Verlagshaus Jacoby & Stuart) war das – eine Bildergeschichte über ausrangierte Filmmonster mit allerlei Seitenhieben und Anspielungen auf Hollywood-Klassiker, die eher was für die Eltern sein dürften. Santini arbeitet, wenn er nicht gerade Kinderbücher schreibt und bebildert, als Zeichentrickfilmer. Marcus kennt zwar „eigentlich gar keinen Gruselfilm“, doch Jonas, den Hai mag er trotzdem.
Was er nicht mag, sind Zauberer und Vampire – und damit ist er hier nicht allein. Aus Erwachsenensicht doch nur wenige Jahre nach dem Hype um Zauberlehrling „Harry Potter“ und die Düsterschnulze „Twilight“ wirken die Kibum-Neuerscheinungen verblüffend realistisch. Da Erstlesegenerationen schnell ausgetauscht sind, kommen und gehen die Trends im Schnellverfahren. Gerade dominieren wieder klassische Themen die Regale: Tiere, Abenteuer und Erziehungsbücher gegen Mobbing oder für den selbstständigen Gang aufs Klo.
Auch Florian Wackers „Dahlenberger“, der am Montag gekürte Träger des Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreises, kommt ganz ohne Übernatürliches aus. Das Buch handelt von der Jugendzeit im Freibad. Es richtet sich zwar an die ungefähr 15-Jährigen von heute, doch das Romandebut des 1980 geborenen Autors wirkt sonderbar zeitlos. Mit detaillierten Beschreibungen von der Wassertiefe über die eigenen Bewegungsabläufe beim Springen bis zum Seelenleben Heranreifender erschafft Wacker eine Welt, die ob ihrer Präzision fast schon wieder verzaubert wirkt. Irgendwo im Buch bezeichnet der Ich-Erzähler das Freibad als einen „Ort, der unabhängig von seiner Umgebung existierte und den es nur gab, weil wir ihn so erschaffen hatten“.
Und diese reale Phantasiewelt erweist sich als perfekter Schauplatz für die Dramen der Jugend, wo ja alles größer und bedeutsamer scheint. Wacker fängt diesen romantischen Schwebezustand ein, ohne die Alltagsnüchternheit vom mittelmäßigen ersten Sex bis zur Trennungsgeschichte der Eltern zu vergessen. Und gerade die reift zum Angstbild heran – zur Sorge davor, in der Liebe genauso zu scheitern wie Mama und Papa. Dafür bekam er durchaus verdient einen Preis über 7.600 Euro, den die Stadt Oldenburg übrigens auch schon mal einbehält, wenn es keine wirklich herausragenden Bücher gibt, wie „Dahlenberger“ eines ist.
Von der mit ermüdender Regelmäßigkeit behaupteten Leseunlust unter Kinder ist auf der Kibum keine Spur. Es ist zeitweise sogar deutlich einfacher, einen Platz an den Computerspiel-Plätzen, die es hier durchaus auch gibt, zu ergattern, als den neuen Ritter Rost (Terzio) in die Finger zu bekommen. Diese Kinderbuchreihe von Autor Jörg Hilbert und Komponist Felix Janosa läuft bereits seit gut 20 Jahren höchst erfolgreich. Damit gehören die Geschichten von Maschinenritter Rost, Burgfräulein Bö und Drache Koks mit ihren großen Bildern und Liedern zum Mitsingen (und dank Noten auch -musizieren) zu den Kindheitshelden der jungen Elterngeneration.
Ähnlich begehrt bei den Kibum-Besuchern und genauso musikalisch ist „Quentin Qualle – Halligalli bei Zirkus Koralli“ (Loewe) von Sänger und Kibum-Schirmherr Heinz Rudolf Kunze. Auch hier ergänzen sich Prosatext und Musik.
Und mit Fredrik Vahle ist gleich noch ein Musiker zu Gast. Der hat sich längst vom DKP-Zeltlager in praktisch alle bürgerlichen Kinderzimmer geklampft. Auf der Messe hat er gleich mehrere Auftritte: Einmal erzählt er den Kindern zum allerersten Mal, wie seine Dauer-Protagonistin Anne Kaffeekanne die anderen Charaktere seiner Lieder kennenlernte – und wie sie dann auch noch ihre berühmte Kaffeekanne verliert. Und für die Eltern hat er einen Pädagogik-Workshop im Gepäck. Statt roter Fahnen gibt es bei Vahle heute die neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung, wie es heißt.
Apropos rote Fahne: Die politischen Mahn- und Erziehungsbücher der 1980er-Jahre über Waldsterben und Atomkriege sind erfreulicherweise längst ausgestorben. Doch zumindest ein bisschen Kommunismus ist noch auf der Kibum zu entdecken: In der Sachbuchabteilung steht Gérard Thomas‘ „Der große Traum“ (Laika).
„Kinder, die in den Kapitalismus geboren werden“, heißt es da, seien zunächst Kinder wie alle anderen auch. Ab dann irgendwann passiere etwas in ihren Köpfen und sie „werden zu kapitalistischen Kindern“. Und weil das aus Thomas‘ Sicht eine schlechte Sache ist, erzählt sein Buch eine Weltgeschichte des Widerstands: Von der Antike über Jesus bis zu Marx – und schließlich in die Sowjetunion. So wirbt er trocken aber herzlich für den Glauben an eine bessere Welt. Und das trotz Stalins Leichenbergen, die nicht verschwiegen werden, „weil eine gute Idee nicht Schuld an ihrer falschen Umsetzung ist“.
Direkt gegenüber gibt es Neues aus der seit den 1960ern laufenden „Was ist was“-Reihe (Tessloff). Der sonst auf Naturwissenschaften und Geschichte gemünzten Serie gelingt im 137. Band tatsächlich nochmal eine kleine Sensation: „Tanz“ von Christine Paxmann liefert nämlich fundiertes Grundwissen über ein klassisches Kulturthema.
Am Ende findet sich doch noch ein richtiges Mädchenbuch. Man darf allerdings bezweifeln, dass „Maus und Molli“ (Thienemann-Esslinger) von Wilhelm Herbert und Karl Storch der inzwischen verschwundenen Sophie gefallen würde. Es ist eine Nachdichtung von Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ – und genauso grausam wie die Vorlage. Wirklich neu ist es allerdings nicht, sondern bereits von 1920. Aber erst jetzt erlebte das Buch den ersten Nachdruck. Angesichts des sonst allgegenwärtigen Rosa-Haarkamm-Terrors sind die ätzenden Damen richtig sympathisch. Nur die Platzierung im Kibum-Raum für die Ein- bis Fünfjährigen irritiert ein wenig, wo Molli und Maus doch gemeinsam Säuglinge stehlen, eine Kuh sprengen und schließlich – als gerechte Strafe – vom Hai gefressen werden.
Kibum: noch bis 17. November, Kulturzentrum PFL, Oldenburg
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