: Das Gedächtnis von Sobibor
Nachruf Thomas Blatt nahm am Aufstand im Vernichtungslager teil
Einen der furchtbarsten Orte der Menschheitsgeschichte hat Thomas Blatt niemals in seinem Leben losgelassen: Sobibor. Der jüdische Junge aus dem polnischen Städtchen Izbica war 15 Jahre alt, als die Nazis ihn in das Lager nahe dem gleichnamigen Dorf im besetzten Polen deportierten. „Sobibor war wie eine Fabrik“, hat Blatt einmal gesagt.
Seit dem Sommer 1942 betrieb die SS das Lager. Hier gab es keine Zwangsarbeit. In Sobibor wurde gestorben, und sonst nichts. Die Morde an etwa 250.000 Juden geschahen in den sechs Vergasungskammern, jeweils etwa vier mal vier Meter groß, in die die SS bis zu 80 Menschen presste. Der Auspuff eines Achtzylinder-Benzinmotors endete in diesen Kammern.
Zuvor hatte man die Opfer mit Peitschen aus den Güterwagen der Züge in das Lager geprügelt. Danach wurden ihre sterblichen Überreste verbrannt.
Thomas aber hat überlebt, als einer von vermutlich 53 Menschen. Er zählte zu den wenigen Juden, die als Handlanger der SS arbeiten mussten, etwa, indem sie das Eigentum der Ermordeten sortierten. Ihr Tod war gewiss von den Nazis längst eingeplant.
Doch im Oktober 1943 wagten die „Arbeitsjuden“ von Sobibor einen Aufstand. Über 100 von ihnen entkamen in den umliegenden Wäldern. Etwa die Hälfte von ihnen spürte die SS wieder auf. Blatt entkam.
Nach dem Ende des Krieges wanderte der junge Mann in die USA aus. Doch Sobibor blieb sein Lebensinhalt. Seine Frau habe sich von ihm getrennt, weil sie die Dauerpräsenz des Lagers in den eigenen vier Wänden nicht mehr ausgehalten habe, berichtete Blatt. Er schrieb Bücher und hielt Vorträge. Im Demjanjuk-Prozess trat er 2009 in München als Nebenkläger auf. „Mein Bezugspunkt ist Sobibor. Wenn ich einen Menschen treffe, muss ich immer daran denken, wie dieser sich wohl in Sobibor verhalten hätte“, sagte der freundliche ältere Herr mit den schütteren Haaren damals der taz, zwischen zwei Zügen aus seiner Zigarette. „Eine sehr späte Gerechtigkeit“, nannte Blatt den Prozess gegen den „Hilfswilligen“ von Sobibor, Demjanjuk.
„Ich suche keine persönliche Rache“, erklärte Blatt. Ihm gehe es um das historische Gedächtnis an das in der Öffentlichkeit wenig bekannte Vernichtungslager. Sobibor dürfe niemals vergessen werden.
Thomas Blatt ist am Samstag vergangener Woche im kalifornischen Santa Barbara gestorben. Er wurde 88 Jahre alt. Und nicht 15, wenn es nach den Nazis gegangen wäre.
Klaus Hillenbrand
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