: Das nächste Päckchen aufgeschnürt
ROMAN Das eigene Leben erzählen: Bei Joachim Meyerhoff ist dabei aus einer Bühnenperformance ein Romanprojekt geworden. Im dritten Teil erinnert er sich an die schwierige Zeit auf der Schauspielschule und den ständigen Zwang, sich selbst zu analysieren
von Detlef Kuhlbrodt
Nach dem ausgiebigen Karl-Ove-Knausgård-Hype ist es komisch, wieder Joachim Meyerhoff zu lesen. Beide verfolgen ähnliche Projekte – das eigene Leben zu erzählen – auf unterschiedliche Art. Während Knausgård durch Detaillismus beeindruckt, erfreut der fast gleich alte Meyerhoff durch Komik. Er ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Schauspieler und brachte seinen sechsteiligen Zyklus „Alle Toten fliegen hoch“ zunächst als Erzähler auf die Bühne des Wiener Burgtheaters. Die Aufführungen sorgten regelmäßig für ein volles Haus und wurden teilweise zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
Das war schon auf der Bühne ein seltsames und ungewohntes Genre; die Theatralisierung der eigenen Biografie. 2011 erschien der erste Teil seines autobiografischen Zyklus – „Amerika“ – der von der Kindheit und dem Austauschjahr handelt, das der junge Held in Laramie, Wyoming, verbrachte und das jäh unterbrochen wird vom tödlichen Unfall seines Bruders. Im zweiten Teil, 2014 erschienen, „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, erfuhr die bald wachsende Leserschaft von Meyerhoffs Kindheit und Jugend, die er als Sohn des Direktors des Landeskrankenhauses für Kinder- und Jugendpsychiatrie in den 70er Jahren in Schleswig verlebte.
Das dritte, morgen erscheinende Buch – „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ – schließt an den ersten an. Es geht um die Zeit Mitte der 1980er Jahre, die Joachim Meyerhoff in München verbringt. Er wohnt bei seinen Großeltern und geht auf die Schauspielschule.
Ganz proustisch geht es bei dem ganzen Unternehmen um die Feier der Vergangenheit, die ein „viel ungesicherterer, weniger verbürgter Ort“ ist, als die Zukunft, ein Ort, der durchdrungen und gestaltet werden muss, damit überhaupt so etwas wie eine „offene Zukunft“ entstehen kann. Es geht darum, „die scheinbare Verlässlichkeit der Vergangenheit aufzugeben“, „die Erinnerungspäckchen wieder aufzuschnüren“, das Vergangene zu gestalten und zu feiern, die Toten als Andere wieder lebendig werden zu lassen. Erst wenn das geschehen ist „wird die Zukunft ihr ewiges Versprechen einlösen und ungewiss sein“, schreibt Myerhoff in „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“. Dass er dabei auch Dinge erfindet sei geradezu zwingend.
Konnte man „Wann wird es endlich wie es nie war“ als ein Buch über die Eltern lesen, dann ist „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ das Großelternbuch. Der Großvater ist der emeritierte Philosophieprofessor Hermann Krings, die Großmutter ist die Schauspielerin a. D. Inge Birkmann. Und den 20-jährigen Joachim hat es eher zufällig in die Hauptstadt Bayerns verschlagen. Erst träumt er vom Zivildienst und von interessanten Krankenschwestern, dann wird er doch bei der Schauspielschule Otto Falckenberg angenommen, obgleich er statt der verlangten drei nur eine Rolle fürs Vorsprechen gelernt hat.
Weil die Suche nach einer Wohnung in München ergebnislos verläuft, zieht er zu seinen Großeltern, in ein „wunderschönes Haus in der Nähe des Nymphenburger Parks“.
Die Großeltern sind exzentrische Großbürger. Sie haben eine Haushälterin und einen Gärtner und zweimal die Süddeutsche Zeitung abonniert, damit beide das Feuilleton zeitgleich lesen und sich daraus vorlesen können. Sie schneiden Brötchen nicht in der Mitte durch, sondern wie ein Brot in mehrere Teile.
Ordnungsmacht Alkohol
Jeder Tag ist bei ihnen gleich und wird geordnet durch schicken Alkohol – Champagner zum Frühstück, Whiskey am Nachmittag –, den sie sich zu den immer gleichen Zeiten einflößen. „Jeder einzelne Tag stand für alle Tage und jeder dieser Tage war ein kleines Wunderwerk. Ein von ihnen zelebrierter Parcours, abgesteckt aus Ritual, Disziplin und Skurrilität.“
Auch das Haus verändert sich nie. „Mir fällt kein einziger Gegenstand im Haus meiner Großeltern ein, […] der je den Platz gewechselt hätte.“
Der Held, der immer noch durch den nicht lange zurückliegenden Tod seines mittleren Bruders komplett aus der Bahn geworfen ist, lebt im Vergangenen. Freunde gleichen Alters kommen in dem Buch nicht vor. Mit wechselndem Erfolg übt er das Schauspielern bei unterschiedlichen Speziallehrern.
Er hat das Gefühl, zu groß zu sein und seine Stimme gefällt ihm auch nicht. Nur einmal, als die Schauspielschüler Kostüme aus dem Fundus versteigern und selber in seltsamen Kostümen auf der Bühne schauspielern und er in einem merkwürdigen Frauenkostüm auftritt, hat er das schöne Gefühl des Gelingens und erkennt, „je mehr ich mich verkleidete, je mehr ich mich unter Perücken und Brillen versteckte, desto weniger Angst hatte ich, zu spielen. Nur wenn ich mich unkenntlich machte, mein Gesicht auslöschte, mir irgendeinen schwachsinnigen Gang ausdachte, verlor ich meine Scheu. Aber sobald […] ich dazu aufgefordert wurde, ‚Ich‘zu sein, mein Gesicht zu zeigen, bekam ich Panik und versagte. „Ich wollte inkognito ich werden“, heißt es wenig später.
Vieles krampft
Das Nebensichstehen, der ständige Zwang, sich selbst und die Situation, in der man steht, zu analysieren, verhindert das authentische Handeln, macht vieles zum Krampf, ist gleichzeitig aber auch wieder die Voraussetzung, um von sich zu erzählen. Möglicherweise.
Die „Lücke“ aus dem Titel meint nicht nur die toten Tiere und Menschen, sondern auch die Selbstdistanz, den „Knacks“ von dem Fitzgerald, den „Popo“, von dem Witold Gombrowicz spricht. Der Wesenskern, die Trauer um den Bruder, ist dagegen ein schweigendes Gefühl.
Auf der Jagd nach Eigenem entdeckt er irgendwann bei Hugendubel einen schicken Fotoband mit Bildern der Zeitschrift Life aus den 60er Jahren. Unbedingt will er dieses Buch besitzen. Da er kein Geld hat, beschließt er, es zu stehlen. Er sehnt sich nach dem Diebstahl mindestens so sehr wie nach dem Buch. „Ich wollte außerhalb der Schauspielschule, außerhalb der Großelternwelt, etwas Eigenes erleben. Etwas, das nur ich mir ausgedacht hatte.“
Die Vorbereitungen gleichen denen für einen Bankraub. Nach einer langen Verfolgungsjagd wird der Bücherdieb von dem Ladendetektiv zur Strecke gebracht und erniedrigt; „ich brauche das Buch“ – wimmernd liegt er auf dem Boden. „Mit angewidertem Gesicht, als wäre ich eine frische Pfütze Kotze“, blickt der Ladendetektiv auf ihn herab und schleudert das Buch auf ihn. Vielleicht ist diese Passage, die Meyerhoff 2013 beim Bachmannwettbewerb vorgetragen hatte, dann doch zu sorgfältig konstruiert.
„Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ ist ein prima Buch. Der Ton allerdings hat sich ein bisschen verändert und man spürt, wie groß der Einschnitt nach dem Tod des Bruders ist, wie die Seele des Autors schwer wurde. Der Ton der ersten beiden Teile von „Alle Toten fliegen hoch“ ist hell, es gibt so viele Szenen, die wahnsinnig komisch oder jugendlich sehnsüchtig sind. „Ach diese Lücke“ hat zwar auch viele großartige, humorvolle Passagen; die große Leichtigkeit, mit der Meyerhoff zuvor erzählte, ist aber nicht mehr da.
Joachim Meyerhoff: „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 352 Seiten, 21,99 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen