Fußball-Soundtrack feiert runden Geburtstag

Heute vor 80 Jahren gab es die erste Livereportage eines Fußballspiels im deutschen Radio: Preußen Münster traf am 1.11.1925 auf Arminia Bielefeld

Alle Regler aufgedreht, Schreie, Pfiffe, Jubel aus bis zu neun Stadien gleichzeitig

VON HOLGER PAULER

Ein Pfeifen, Surren, Kratzen kommt aus dem Röhrenradio, die Lautstärke schwankt. Die Stimme von Hörfunkreporter Bernhard Ernst ist kaum zu verstehen, zwischendurch bricht er die Übertragung ab, wechselt auf das Telefon. So ähnlich muss die erste Rundfunk-Live-Reportage eines Fußballspiels in Deutschland geklungen haben. Am 1. November 1925. Im Münsteraner Preußenstadion trafen aufeinander: Preußen Münster und Arminia Bielefeld.

Ausgerechnet das seit Jahren drittklassige Münster ist die Wiege des Radiofußballs. Schuld an der exponierten Position der Preußen-Stadt sind die französischen Besatzer. Die sorgten dafür, dass die Westdeutsche Funkstunde AG (Wefag), einer der Vorläufer des Westdeutschen Rundfunks (WDR), im Jahr 1924 ihren Sitz in Münster bekam. Erst 1926 zog man nach Köln um.

Der Deutsche Fußballbund (DFB) hatte damals für Fußballübertragungen im Radio übrigens nicht allzu viel übrig. Die Spiele der Endrunde um die deutschen Meisterschaften fanden kaum Gehör. „Der DFB hatte befürchtet, dass dadurch die Zuschauer wegbleiben könnten“, sagt Sporthistoriker und taz-Schreiber Erik Eggers. Mit der selben Argumentation wurden in den 50er Jahren die Fernseh-übertragungen eingeschränkt. „Die Entwicklung hat gezeigt, dass dies eine Fehleinschätzung war“, so Eggers. Radio und Fernsehen waren beste Werbung.

Aber lassen wir Reporter Bernhard Ernst selbst zu Wort kommen: „Ganz klein haben wir angefangen. Es zauberten keine Internationalen vor uns auf dem grünen Rasen, sondern die so genannte Provinzklasse hatte die Statisten für unseren Rundfunk-Fußballstart gestellt“, schrieb Ernst in seinem Buch „Rund um das Mikrophon“. „Hinter einem der beiden Tore – doppelt gesichert durch ein Hockeytor – schaukelte das Marmorkästchen im Herbstwind damit der Schlachtenlärm die Atmosphäre noch besser belebe.“

Ernst emanzipierte sich schnell von der Provinzklasse. „Ernst war ein eher zurückhaltender Kommentator, sein Stil galt als intellektuell“, sagt Erik Eggers. „Das Tragische für ihn war, dass von den frühen Sportreportern nicht er, sondern Radiokommentator Herbert Zimmermann im Gedächtnis blieb – obwohl Ernst etwa das Fußball-WM-Finale 1954 zwischen Deutschland und Ungarn für das Fernsehen kommentierte.“ Das Problem: Die Fernsehübertragung durch Ernst wurde nicht festgehalten. MAZ-Aufzeichnungen hat es erst ab 1955 gegeben. Ernst starb am 19. Oktober 1957 im Alter von 58 Jahren in Köln.

1963, schon wieder Münster. Erster Spieltag der neu gegründeten Fußball-Bundesliga. Der WDR überträgt in seiner kleinen „Konferenzschaltung“ die Spiele Werder Bremen gegen Borussia Dortmund und Preußen Münster gegen den Hamburger SV. „Der WDR hatte damals zwar seine Zentrale in Köln, aber auch in Münster gab es noch ein Funkhaus“, sagt WDR-Sprecher Uwe-Jens Lindner. Und die Nord-West-Duelle waren reizvoll. Auch wegen der gemeinsamen Vorgeschichte von WDR und NDR. Die Reporter damals: Helmut Poppen in Bremen und Tony Kahl in Münster. Der spätere ARD-Sportchef Heribert Faßbender saß in der Glückaufkampfbahn beim Spiel Schalke 04 gegen VfB Stuttgart. Seine Reportage wurde als siebenminütige Aufzeichnung nachgereicht.

Das Radio wurde nun immer wichtiger. Spätestens in den 70ern hatte sich dann auch die Konferenzschaltung durchgesetzt. Die Verantwortung lag beim WDR. Anfangs war die Konferenz regional beschränkt. Ab 17:05 Uhr, die letzten zehn Minuten eines Spiels. Später bundesweit. 20 Minuten oder länger: Alle Regler aufgedreht, Schreie, Pfiffe, Jubel aus bis zu neun Stadien gleichzeitig. Der Höhepunkt, die Schlussphase zur Soundwall verdichtet. Der Soundtrack der Liga. Kein Entrinnen, bis es heißt: „Zurück in die angeschlossenen Funkhäuser.“

Die Sendung „Sport und Musik“ gab damals den Takt vor. Samstagnachmittag, 15:05 Uhr. Das „Werner-Müller Tanzorchester“ des WDR hatte sich gerade durch die letzten Takte der Erkennungsmelodie geswingt, eine Stimme vom Band fasste knapp und präzise das zusammen, worauf alle hofften: „Tore, Punkte, Meisterschaft – am Mikrofon Kurt Brumme.“ Unvergessen, wie der im Frühjahr verstorbene Brumme seine Hörer an den bisweilen verregnet grauen Samstagnachmittagen mit tiefer, bedächtiger Stimme begrüßte: „Herzlich willkommen liebe Hörer zu einer neuen Ausgabe von ‘Sport und Musik‘ auf WDR 1“.

Mittlerweile heißt die Bundesliga-Sendung trocken „WDR 2-Sportzeit“. Es gibt keine Erkennungsmelodie mehr, nur ein Jingle. Auch die Einblendungen werden kürzer. Der Zeitgeist fordert seinen Tribut. Die Geschichtenerzähler wie der Bayer Oskar Klose oder Jochen Hageleit sind gestorben oder in Rente; oder haben das Medium gewechselt – wie der im Radio bisweilen wunderbare, im Fernsehen eher unerträgliche Werner Hansch.

Nur wenige haben heute noch eine unverwechselbare Sprache, wie Günther Koch, der ewig leidende Nürnberg-Fan (“die Clubberer“) oder Manni Breuckmann. So war es auch kein Zufall, dass beide als Hauptakteure bei einem der letzten Radio-Highlights, dem letzten Spieltag der Saison 1998/99 mitwirkten. Für die Reportage wurden sie gemeinsam mit dem Frankfurter Kollegen Dirk Schmitt mit dem Medienpreis ausgezeichnet. 12 Millionen Menschen sollen damals zugehört haben als Dirk Schmitt vor Freude über die Frankfurter Leistung kein klares Wort mehr heraus bekam und Manni Breuckmann aus dem Bochumer Ruhrstadion nur noch Beileidsbekundungen Richtung Frankenland ausrichten konnte. Dort versuchte Günther Koch den abermaligen Abstieg seines „Clubs“ mit zitternder Stimme zu verdauen: „Hier ist Nürnberg, ich melde mich vom Abgrund...“