Einmal quer durchs Büchergewimmel

Hinweise Ich-Plakate, Alpentunnel, verkrachte Existenzen, faustgroße Leberflecke, Traumjournale: neue Romane und Sachbücher kurz besprochen

Verliebt in Tutorin Anna

Komplexe gehen immer. Denn dass wir alle einen an der Waffel haben, wissen wir zwar, wollen es aber nicht wahrhaben. Als einziges Kind eines Pfarrerpaars steht der Protagonist und sein Umfeld in Jarko Markleins Debütroman „Florian Berg ist sterblich“ dem nicht nach.

Nach diversen Jugendabenteuern in der Melancholie eines niedersächsischen Kuhdorfs beginnt Florian sein Philosophiestudium in Leipzig – dort lernt er Line kennen, deren „faustgroßer“ Leberfleck ihn von Beginn an stört. Da sie aber die richtigen Kontakte für einen Platz im überbelegten Seminar hat, geht er auf ihre Avancen ein und lässt sich von ihr in die linksalternative Szene führen. Der Erzähler beschreibt diese eindrücklich über ihre Sprache: FSR, VoKü, Stura, WG-Plenum, Fenchel-Anis-Kümmel-Tee.

Versunken in Tagträumen und Fantasien, fehlen Florian mitunter die Worte; er verhält sich tollpatschig und opportunistisch. Tutorin Anna wird seine große Liebe – sie ist aber mit dem reaktionären Tobi zusammen. Und während Line Florian zu erobern versucht, hängt der ihr Exfreund Stefan nach. Er wird Florians Mitbewohner und verschafft ihm Kontakte zur Studienstiftung des Deutschen Volkes, ist jedoch bald eifersüchtig auf ihn.

Nicht nur hat fast jeder hier einen Knall, sondern scheitert auch fortwährend. Die Konstellation ist durch schlichten Stil und genaue Beobachtungen witzig, poetisch und spannend erzählt. Dass Florian im letzten Drittel Anna zu Studentenprotesten nach Chile nachreist, überspannt den Erzählbogen dann; das lapidare Ende lässt den Leser eher unbefriedigt. Aber muss das nicht auch so sein bei einem Roman über die radikale Banalität des Alltags? Adrian Schulz

Jarko Marklein: „Florian Berg ist sterblich“. Blumenbar, Berlin 2015, 336 Seiten, 20 Euro

In den Fels gebohrt

Sechs Stunden und 23 Minuten. In diesem Zeitraum bewegt sich die Handlung von Zora del Buonos Novelle „Gotthard“, die den Ort ihres Geschehens im Titel trägt, ein kurzer Epilog in Berlin schließt die Geschichte ab.

Verschrobene Charaktere hat die Autorin im Tessin versammelt, Bergarbeiter, Angehörige von Bergarbeitern, Prostituierte und einen Zugfetischisten mit dem sprechenden Namen Fritz Bergundthal. Sie alle tragen ihre verschiedenen Lädierungen mit sich, einige haben Erinnerungen, die sie gern wieder loswürden. Doch selbst den abstoßendsten unter ihnen kommt man unter Zora del Buonos Blick unweigerlich näher.

Die Autorin wurde 1962 in Zürich geboren. So verdichtet wie die Ereignisse ist auch ihre Sprache, in der nicht nur die inneren Regungen der einzelnen Figuren, sondern ebenso die Eigenheiten des Schweizer Bergmassivs wunderbar anschaulich beschrieben werden. Man erfährt einiges über die Widrigkeiten bei Bohrarbeiten im Fels bis hin zu den unterschiedlichen Gerüchen der fertigen Tunnel, je nachdem, was für ein Gestein sich in ihnen verbirgt und ob sie mit Beton ausgespritzt sind oder nicht. Das liest sich gut.

Das dramatische Finale wäre in seiner Drastik gar nicht nötig gewesen. Dafür erklärt es die rätselhafte Illustration auf dem Cover des Buchs mit einem Gebirgspanorama und zwei Paddeln, die über den Gipfeln zu schweben scheinen.

Tim Caspar Boehme

Zora del Buono: „Gotthard“. Beck Verlag, München 2015, ‚144 Seiten, 16,95 Euro

Das, was nachher kam

„Ich bin sechsundachtzig und doppelt so alt wie du, als du gestorben bist“, schreibt Marceline Loridan-Ivens im Lebensbericht an ihren Vater. Sie war in Birkenau, er in Auschwitz. Sie hat überlebt, er nicht. Sie leidet darunter, dass sie die letzte Botschaft ihres Vaters nicht behalten hat. Er hatte ihr einen Zettel zukommen lassen, von dem sie nur die Anrede „Mein liebes kleines Mädchen“ und die Unterschrift behalten hat, „Schloime“.

„Und du bist nicht zurückgekommen“ ist weit mehr als die Erinnerung einer Überlebenden an den Horror der Vernichtungslager. Ihr Buch erzählt uns von dem, was nachher kam. Von der Familie, die zerbrach, von den Geschwistern, die sich das Leben nahmen. Sie starben an den Lagern, „ohne je dort gewesen zu sein“.

Rozenberg hieß Marceline, bevor sie ihre Männer heiratete. Die erste Ehe war kurz, die zweite hielt bis zum Tod des Filmemachers Joris Ivens. Sie dokumentierten den Vietnamkrieg, während der Kulturrevolution in China versuchten sie, die kleinen Leute zu Wort kommen zu lassen. Joris Ivens war ungefähr so alt wie ihr Vater. Er war Kommunist, Marceline Loridan-Ivens nicht.

Ihre Geschichte ist auch die Geschichte einer brutalen Ernüchterung, der Enttäuschung des Engagements, dem sich eine Generation nach dem Krieg verschrieben hatte. „Ich dachte, dass sich mit der Befreiung der Völker, seien sie algerisch, vietnamesisch oder chinesisch, das jüdische Problem von selbst erledigen werde. Das war ein schrecklicher Irrtum.“ Trotzdem hofft die alte Dame, die sich stets der Gegenwart verpflichtet fühlte, dass es sich gelohnt hat, aus den Lagern zurückzukehren. Ulrich Gutmair

Marceline Loridan-Ivens: „Und du bist nicht zurückgekommen“. Insel Verlag, Berlin 2015. 111 Seiten, 15 Euro

Nackenkissen und Chaos

Die Protagonistin ist eine junge Frau namens Kilb, die einen Blog schreibt und sich als Journalistin in Wien durchschlägt, aber eigentlich tief verletzt ist, sie weiß nur noch nicht, wie und durch wen. Irgendwann sitzt ihr alles schwer im Nacken, sie schläft sich durch diverse Nackenkissen, sucht nach Gelassenheit, schaut sich Klöster von innen an, macht sich auf den Weg zu Tantra und Yoga und sieht nebenher, wie unstet und verrückt die Welt ist.

Geschrieben ist der Roman, der bereits Daniela Emmingers dritter ist, in einem wissenden, aber unprätentiösen, angenehmen Parlandoton. Bevor alles zu nabelschauderhaft und langweilig wird, hat die Autorin die richtigen Ideen: Sie setzt ihrer Hauptfigur Kilb einen Obdachlosen namens Hürm entgegen (die seltsamen Namen finden eine schöne Erklärung, mehr sei nicht verraten). Später geht es noch um eine Hochzeit und um ganz viel Chaos.

Manchmal geht der Autorin auch die Fantasie durch. Da wohnt dann ein Elefant in einem Bernhardiner. Dann geht es um Reinkarnation und einen Psychotherapeuten, der weder Ahnung von Psychotherapie zu haben scheint, noch seine Patientinnen auseinanderhalten kann. Manchmal passiert einfach zu viel in diesem kleinen Roman. Aber bei allem notwendigen Ernst ist „Die Vergebung muss noch warten“ ein kecker, unterhaltsamer, ein guter Roman. René Hamann

Daniela Emminger: „Die Vergebung muss noch warten“. Czernin, Wien 2015, 256 Seiten, 21,90 Euro

Überall Zerstörung

Die US-Soziologin Saskia Sassen strebt in ihrem neuen Buch „Ausgrenzungen“ eine Neuvermessung der polit-ökonomischen Verhältnisse unserer Gegenwart an. Sie rückt Ausgrenzungs- und Zerstörungsprozesse in den Blick, die durch unsere kapitalistischen Verwertungslogiken weltweit hervorgerufen werden. So führt Sassen vor, wie das Primat der Austeritätspolitik wirtschaftliche und staatliche Handlungsräume schrumpfen lässt und letztlich Menschen in immer größerer Zahl überflüssig macht.

Es geht aber auch um Ausgrenzungsprozesse innerhalb unserer Umwelt. Mit Fracking und anderen toxischen Technologien der Rohstoffgewinnung, mit der industriellen Vernutzung immer größerer Landflächen zwecks Biotreibstoff- und Nahrungsmittelproduktion bewegen wir uns längst in einer Phase irreversibler Zerstörung der Biosphäre und treten damit neue Vertreibungsprozesse los.

Diesen Prozessen gemeinsam ist die größenmäßig eskalierende Dynamik des Ausgrenzens in den letzten 30 Jahren. Daher müsse, so Sassen, nach der gemeinsamen Logik gefragt werden, die diesen Dynamiken zugrunde liegt.

Sassen zufolge geht es nicht mehr wie in der keynesianisch geprägten kapitalistischen Epoche um den unvollständigen Versuch, möglichst viele Menschen ins Wirtschaftssystem zu integrieren. Sondern die Ausgrenzung und unwiderrufliche Zerstörung sei längst als normaler Bestandteil des Funktionierens in die Weltwirtschaft integriert. Eva Berger

Saskia Sassen: „Ausgrenzungen. Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft“. S. Fischer, Frankfurt/M. 2015, 320 S., 24,99 Euro

Der Mann des Tages

„Ein gescheiterter Maler, der sich an den Kubismus klammert. Seine Farbe hat einen deutschen Akzent. Er widert mich an.“ Nichts Schmeichelhaftes hat Arthur Cravan in der Nummer 4 seiner Zeitschrift Maintenant im Frühjahr 1914 über die Künstler einer Ausstellung im „Salon des Artistes Indépendants“ in Paris zu sagen.

Die Damen und Herren verstehen deshalb auch keinerlei Spaß, ziehen gegen den Autor vor Gericht oder verlangen Satisfaktion per Duell. Das ficht Arthur Cravan, den Dandy, Boxer und Bilderstürmer, nicht an. Cravans unstetes Leben ist eine permanente, auch für heutige Verhältnisse noch immer mediengerechte und filmreife Inszenierung.

Seine Körpergröße – er misst an die zwei Meter– schützt ihn vor tätlichen Angriffen. Und sein Onkel Oscar Wilde ist ihm heroisches Vorbild, das er zu furiosen eigenen Texten verarbeitet. Auch deshalb wird Fabian Avenarius Lloyd, so sein bürgerlicher Name, zu Lebzeiten (1887–1919) bekannt.

Nachprüfbar ist das nun in dem in aktualisierter Fassung veröffentlichten Band „König der verkrachten Existenzen“, der neben Cravans gesammelten Artikeln auch Gedichte und Briefe sowie ein instruktives Nachwort von Bastiaan van der Velden versammelt. Wie unversöhnlich, aber auch wie entfesselt Cravan geschrieben hat, wird von der ersten Seite an evident. Er ist elektrisiert von der technisierten Alltagswelt der US-geprägten Moderne, favorisiert „Vulgär“-Unterhaltung anstelle von Hochkultur und macht aus seiner Ablehnung des Bürgerlichen keinen Hehl.

Dass er als Vorläufer von Dada gilt und die Radikalität eines B. Traven vorweggenommen hat – geschenkt. Wie dieser verschwindet auch Arthur Cravan. Er flüchtet vor der Einberufung als Soldat in den Ersten Weltkrieg in die USA und von dort weiter nach Mexiko. „Ich werde schon sehr bald der Mann des Tages sein“, schreibt er aus New York an einen Freund. Vor so viel Zuversicht darf man doch auch mal demütig sein. Julian Weber

Arthur Cravan: „König der verkrachten Existenzen“. Edition Nautilus, Hamburg 2015, 190 S., 22 Euro

Verzichtaufs Echte

Die stärkste, ja, die These des Autors am heftigsten belegende Seite des Buches sieht nur, wer den losen Umschlag mit zur Kenntnis nimmt. Statt eines der üblichen Autorenfotos sieht man Valentin Groebner, Historiker an der Universität Luzern, als Zeichnung. Es ist die eines Kindes, ein bezauberndes Gekrakel – gleichwohl: Wer diesen Mann, einen der coolsten Geschichtswissenschaftler momentan überhaupt, mal in echt gesehen hat, muss irritiert sein. Sein Gesicht – ein freundlicher Bollerkopp? Aber, so könnte mit Groebner gesagt werden: Was ist schon echt? Kann eine noch so porentiefe Fotografie stärkere Authentizität beanspruchen für das, was wahr ist, als etwa die Skizze eines Kindes? Sind nicht scheinauthentische Fotografien auch Produkte künstlichst hergestellter Aufnahmebedingungen?

Groebner dechiffriert die Kunst der „Ich“-Fotografie und zeigt, dass Werbeplakate im öffentlichen Raum uns anschreien und wir, die Rezipienten gar nicht die konkreten Personen selbst sehen, sondern, durch das unbewusste Bildergedächtnis Gesichter erkennen, die schon immer da waren. Gern auch solche, die während der Renaissance „ausgedacht“ wurden. Und weil der Blick auf ein Bild immer auch schon alle Voraussetzungen in die Beschau mit einfließen lässt, nützt das Beharren auch Echtheit, auf das wahrhaft Dokumentarische gar nichts: Das Natürliche zu inszenieren dauert, fast eine Binse in der Kulturwissenschaft, am längsten. Groebner plädiert für den Verzicht auf den Glauben ans Echte. Jan Feddersen

Valentin Groebner: „Ich-Plakate“. S. Fischer, Frankfurt/M. 2015, 206 S., 22,99 Euro

Feucht oder prophetisch

Weil ihm herkömmliche Traumbücher entweder zu esoterisch traumdeutend sind oder zu wissenschaftlich faktenhuberisch, hat der holländische Psychologieprofessor Douwe Draaisma immer einen Bogen um sie gemacht. Als eine befreundete Künstlerin ihn bat, etwas über die Träume von Geburtsblinden herauszufinden, war es mit der Zurückhaltung vorbei. Ausgehend von der Frage, warum Blinde, die nicht in Bildern träumen, sich dennoch eines visuellen Vokabulars bedienen, wenn sie von ihren Träumen berichten, wollte Draaisma bald wissen, ob Träume farbig oder schwarz-weiß sind, ob sexuelle Träume Ausdruck sexueller Sehnsüchte sind, warum Flugträume als angenehm empfunden werden, warum wir im Traum durch Prüfungen fallen oder wie wir uns im Traum des Träumens bewusst sein können.

Er wälzte Traumjournale, konsultierte Freuds „Traumdeutungen“ und aktuelle Traumdeutungstheorien, löst in Schlaflaboren gemachte neurophysiologische Erkenntnisse aus ihrem trockenen Forschungskontext und setzt die Informationen miteinander in Beziehung. Keine der Erkenntnisse erscheint dabei als ultimativ, nach einem einleitenden Übersichtskapitel nimmt er sich den unterschiedlichen Traumarten an, bespricht die Absurdität von Nacktträumen, beleuchtet die seherische Kraft prophetischer Träume. So ist „Wie wir träumen“ ein aufschlussreiches Kompendium, aus dem man Schlüsse für das eigene Traumverhalten ziehen kann. Sylvia Prahl

Douwe Draaisma: „Wie wir träumen“. Galiani Verlag, Berlin 2015, 313 S., 22,99 Euro