„Jeder sollte Israel kritisieren“

Ich habe keine Angst vor der Hamas. Ich habe Angst vor uns. Wir machen alles, um die Hamas zu stärken Das ist der Fehler. Wir sollten den Palästinensern die Freiheit geben, zu tun, was sie wollen

INTERVIEW DANIEL BAX

taz: Herr Levy, in seinen letzten Jahren erklärte Israel Jassir Arafat zum größten Hindernis für den Frieden. Jetzt ist er seit fast einem Jahr tot – und neue Verhandlungen sind immer noch nicht in Sicht. Warum?

Gideon Levy: Weil Ariel Scharon nicht an Verhandlungen glaubt – so, wie er überhaupt nicht an Frieden mit den Arabern glaubt. Er vertraut ihnen nicht.

Aber die meisten Palästinenser wählten mit Mahmud Abbas einen moderaten Politiker als Präsidenten. Er lehnte Selbstmordattentate stets ab.

Sie dürfen nicht vergessen, dass die Hamas nicht teilgenommen hat an diesen Wahlen. Ich glaube schon, dass es eine pragmatische Mehrheit gibt, die Mahmud Abbas unterstützt. Aber sie nimmt konsequent ab, weil er keine Ergebnisse vorweisen kann.

Die Hamas gibt Israel immer wieder Grund, alle Verhandlungen abzulehnen. Haben Sie Angst vor der Hamas?

Nein, ich habe keine Angst vor der Hamas. Ich habe Angst vor uns selbst. Wir machen alles, um die Hamas zu stärken. Natürlich gibt es den Terror, der wirklich beängstigend ist. Es gab Jahre, da hatten Eltern in Israel Angst, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Das will ich nicht klein reden, auch ich habe Kinder. Aber es ist eine Frage des Maßstabs.

Die Hamas stellt doch das Existenzrecht Israels in Frage …

Diese Debatte ist doch ein Witz. Israel ist eine regionale Supermacht und seinen Nachbarn auf jedem Gebiet überlegen. Es gibt keine Waffe auf der Welt, die Israel nicht besitzt, von der Atombombe bis zu verfeinertem Kriegsgerät.

Stellt die Hamas denn keine Bedrohung für Israel dar?

Sie wäre überhaupt keine Bedrohung, wenn Israel die palästinensischen Autonomiebehörden in die Lage versetzte, wirklich zu regieren und ihren Leuten ein paar Fortschritte vorzuweisen. Aber Abbas ist ein General ohne Soldaten. Es gibt keine Polizeistation und keinen Streifenwagen, die nicht von der israelischen Armee angegriffen wurden. Wir haben jegliches Symbol der Hoffnung und der Souveränität zerstört. Und jetzt sagen wir, er soll wirkungsvoll gegen den Terror vorgehen? Solange die Situation so hoffnungslos ist wie zurzeit, werden radikale Gruppen weiterhin Zulauf finden. Wenn wir die Hamas bekämpfen wollen, dann sollten wir das nicht mit Hubschraubern und Kampfflugzeugen tun, sondern indem wir das Leben der Palästinenser verbessern.

In jüdischen Gemeinden Europas grassiert, aufgrund des Nahostkonflikts, die Angst vor einem neuen Antisemitismus. Ist die Angst berechtigt?

Sie ist ein Produkt von ehrlicher Paranoia und einem großen Anteil Manipulation. Paranoia zu haben, bedeutet nicht, dass man keine Feinde hat. Aber indem man sich selbst ausschließlich zum Opfer erklärt, entlässt man sich aus jeder Verantwortung. Die späte Golda Meir hat das einmal auf die Spitze getrieben als sie sagte, nach dem Holocaust hätten die Juden das Recht zu tun, was immer sie wollten. Das ist natürlich eine extreme Aussage. Aber ich fürchte, viele Juden und Israelis denken so, auch wenn sie es vielleicht nicht sagen würden. Ich kann das nicht akzeptieren.

Und was soll „Manipulation“ sein?

Natürlich sind auch viele Israelis zu Opfern des Konflikts geworden. Das bedeutet aber nicht, dass Israel diese Tatsache nicht in zynischer Weise zu eigenen Zwecken benutzt. Die Agonie und das Leid der Palästinenser kommen in den israelischen Medien so gut wie gar nicht vor. Nur indem man die andere Seite ausblendet, kann man sich der Welt als Opfer präsentieren. Israel ist heute ein viel rassistischeres Land als irgendein Land in Europa. Ein Araber in Israel zu sein, ist mit mehr Nachteilen und Diskriminierungen verbunden, als irgendwo auf der Welt ein Jude zu sein. Es ist überhaupt nicht damit zu vergleichen!

Es scheint, als reagiere Israel lediglich auf den Terror.

Das stimmt – aber das ist eine große Lüge. Israel reagiert auf den Terror. Und gleichzeitig ruft es neuen Terror hervor. Kürzlich etwa hat Israel bei seinen Angriffen auf den Gaza-Streifen auch eine Schule beschossen. Das hätte ein internationaler Skandal sein müssen. Aber niemand kümmert sich darum.

Warum nicht?

Zum einen haben die internationalen Medien ein wenig das Interesse am Nahostkonflikt verloren. Zum anderen kaufen sie den Israelis alle möglichen Lügen ab. Aber es gibt noch immer eine Menge kritischer Stimmen. Es ist immer noch kein Vergnügen, ins Ausland zu reisen und zu sagen, man sei Israeli.

In Deutschland wird Israels Standpunkt offenbar besser verstanden.

Deutschland ist ein besonderer Fall. Aber ich gehöre zu denen, die meinen, dass jeder Deutsche das Recht hat, Israel zu kritisieren. Mehr noch: Jeder, der sich als echter Freund Israels versteht, sollte Israel kritisieren.

Auch in den USA versteht man Israel gut. Als nach dem Gaza-Abzug dort Synagogen brannten, kritisierte George Bush dies als Beispiel für einen neuen Antisemitismus.

Das ist doch lächerlich. Bush sollte sich einmal anschauen, was Israel nach 1948 mit über 400 Moscheen auf seinem Gebiet gemacht hat. Manche wurden zu Restaurants oder Nachtclubs umgewandelt, andere zu Müllhalden. Es war doch klar, dass die Gebäude nach dem Abzug zerstört werden würden. Wir hätten sie ja fast selbst zerstört, der Oberste Gerichtshof hat das unterstützt. Also, warum sollten wir uns beklagen? Das ist doch absurd. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass Bush wirklich an Frieden im Nahen Osten interessiert ist.

Ist Druck von außen unabdingbar?

Frieden im Nahen Osten ist nur möglich durch äußeren Druck. Oder durch noch mehr Blutvergießen.

Noch mehr Blutvergießen? Die Lage schien gerade etwas ruhiger.

Wir befinden uns in einer Zwischenphase. Es ist wie in einem Boxkampf: Jeder hat sich in seine Ecke zurückgezogen, um Wasser zu trinken und seine Wunden behandeln zu lassen, bevor es in die nächste Runde geht.

Gibt es noch genug Hass für eine weitere Runde? Die Zweite Intifada ist vorbei, Selbstmordattentate gibt es viel weniger. Die Palästinenser sind doch im Grunde besiegt.

Sie sind besiegt, ganz sicher. Aber sie haben nur aufgehört, weil sie müde und erschöpft sind. Der Hass wird immer stärker, und das mit gutem Grund. Israel hält in den besetzten Gebieten eines der brutalsten Besatzungsregimes der Welt aufrecht, und die Siedlungen werden mehr und stärker ausgebaut. Und das ist schlecht für Israel.

Warum?

Weil das nur die Extremisten stärkt. Die Annahme ist falsch: Je schlechter es den Palästinensern geht, desto besser geht es Israel. Das Gegenteil ist richtig: Je besser es den Palästinensern geht, desto besser ist das für Israel.

Der Terror hat dem Anliegen der Palästinenser schwer geschadet.

Das stimmt. Aber wenn sie sich benehmen, dann kümmert ihr Schicksal niemanden mehr. Die ersten zwanzig Jahre gab es keinen Terror, keinen Widerstand. Die Welt wurde erst auf die Palästinenser aufmerksam, als sie in den Siebzigerjahren damit begannen, Flugzeuge zu entführen. Ich habe Ehud Barak einmal gefragt, was er tun würde, wenn er Palästinenser wäre. Er war ehrlich genug zuzugeben, dass er sich einer Terrororganisation anschließen würde.

Hilft die Mauer gegen den Terror?

In gewisser Weise, ja. Aber sie wird nie völlige Sicherheit bieten, und auf der anderen Seite führt sie zu noch mehr Hass und Verbitterung.

Ist sie nicht ein Zeichen dafür, dass Israel in Zukunft gewillt ist, eine Grenze zu ziehen und auf Gebietsansprüche zu verzichten?

Was machen dann 200.000 Siedler jenseits dieser Grenze? Sie werden weiterhin von der Armee beschützt und bekommen öffentliche Gelder. Sie werden nicht ausgeschlossen. Es wird nur schwieriger, sie zu beschützen.

Mauern sich die Israelis damit nicht selbst ein?

Das stimmt vielleicht auf eine philosophische Art und Weise. Aber Israel befindet sich ohnehin in einer Art Ghetto, ob mit oder ohne Mauer. Solange die Besatzung andauert, wird es ein Ghetto sein. Schauen Sie, eine Mauer hat zwei Funktionen: Man fühlt sich dadurch sicherer, und vielleicht ist man das auch. Und zweitens: Man sieht den anderen nicht, wenn die Mauer nur hoch genug ist. Das ist der Trend in Israel: Nicht sehen wollen. Dieser Traum, die Palästinenser einfach nicht mehr zu sehen, als ob sie nicht existieren würden.

Sie sind öfter in Gaza unterwegs. Wie stellt sich die Lage dort nach dem Abzug der israelischen Armee dar?

Schlecht wie immer, nichts hat sich grundlegend verändert. Die Tatsache, dass die Wächter nun das Gefängnis verlassen haben und sich um das Gefängnis gruppieren, macht für die Gefangenen keinen großen Unterschied. Gut, das Gefängnis ist jetzt größer.

War der Abzug nicht richtig?

Doch. Aber die Frage ist nicht, ob wir uns hätten zurückziehen sollen oder nicht. Die Frage ist, ob wir die Palästinenser jetzt in die Lage versetzen, dort etwas aufzubauen. Wir lassen sie nicht ihren Hafen öffnen oder ihren Flughafen in Betrieb nehmen, wir schränken ihre Bewegungsfreiheit ein und lassen sie nicht ins Westjordanland. Das ist der Fehler. Wir sollten ihnen die Freiheit geben, zu tun, was sie wollen.

Wie, glauben Sie, wird die Landkarte in zwanzig, dreißig Jahren aussehen?

Nach einem Friedensschluss werden wir zu den Grenzen von 1967 zurückkehren. Wir werden endlich dort angekommen sein, wo wir schon längst sein sollten.