piwik no script img

Feuerwerk mit Human Beatbox

KONZERT Spiel mit Geschlechtergrenzen: Das US-Duo CocoRosie führt Songs seines neuen Albums „Heartache City“ im ausverkauften Berliner Columbia-Theater vor

CocoRosie am Mittwoch in Berlin: Sierra (links) und Bianca Casady Foto: Miguel Lopes

von ELIAS KREUZMAIR

Hohle Promotion-Mechanismen der multinationalen Kulturindustrie haben schon so manche Stilblüte hervorgebracht: Aber am Mittwochabend in Berlin, da war schon von weitem eine besonders doppeldeutige Botschaft über dem Eingang des neueröffneten Berliner Columbia-Theaters zu erkennen. Auf der auf alt getrimmten Anzeigetafel – einer Tafel, wie sie typischerweise über Kinoeingängen zu finden ist – stand in schwarzen Lettern geschrieben: „CocoRosie Sold Out“. Ausverkauf? Die Band hatte ein „Exklusivkonzert“ angekündigt, anlässlich der Veröffentlichung ihres neuen Albums „Heartache City“, die Nachfrage nach Tickets war naturgemäß groß.

Schauergeschichten

Mehr als ein Jahrzehnt ist vergangen, seit die Zwillingsschwestern Sierra „Rosie“ und Bianca „Coco“ Casady gleichsam aus dem Nichts auftauchten. In schnelllebigen Popzyklen gerechnet, ist seit dem CocoRosie-Debütalbum „La Maison de mon rêve“ (2004) aber mehr als eine halbe Ewigkeit vergangen: Kaum zu glauben, „Heart­ache City“ ist bereits das sechste Werk der idiosynkratischen US-Künstlerinnen. Auch auf diesem zeigen sie, warum sie nach wie vor als innovativ gelten: Spieluhren, Spielzeugins­trumente und Billo-Drumcomputer begleiten den entrückten Operngesang von Sierra, während Bianca mit quäkender Stimme Raps spuckt. Themen der Texte: Schauer- und Schurkengeschichten über Sehnsucht, Geduld und Liebe, aber nicht auf erwartbar romantische Art, sondern immer mit queer-feministischen Untertönen.

Was man auf „Heartache City“ allerdings vermisst: die Beatlastigkeit früherer Werke. Wie würde das auf der Bühne aussehen? Als Sierra, Bianca und Band selbige betreten, postieren sich die beiden Schwestern vorn, links hinter ihnen, etwas erhöht, der Herr über Keyboard, Trompete, Synthesizer und Samples – zentral auf der Bühne, Tez, von Beruf Human Beatboxer. Standes- und namengemäß mit einem riesigen Goldzahn behängt, bringt er die Songs mit seinen Grooves nach vorn.

„Un Beso“ beispielsweise, das auf „Heartache City“ eher zahnlos klingt, entwickelt so ungeahntes Überwältigungspotenzial. In der Tat bilden die Beats von Tez das Kraftzentrum dieses Konzerts. Das Publikum spendet ihm bei jedem Song Szenenapplaus. Diese Sympathie teilen die Casady-Schwestern und räumen zur Mitte der Show die Bühne für Tez, mit dem sie auch früher häufiger zusammengearbeitet haben. Er nutzt die Zeit für eine konzentrierte Soloshow.

Die Musik von CocoRosie macht klar: Das Good Girl kann immer ein Bad Boy sein und andersrum

Dann kehren Sierra und Bianca auf die Bühne zurück. Die eine trägt seit Beginn des Konzerts eine Baseball-Cap mit „Pride“-Schriftzug und ein weißes, einem Maleranzug ähnliches Kleiderstück, dazu Sonnenbrille, weiße Dreadlocks und eine große, rote Schleife mit weißen Punkten im Haar. Die andere, Bianca, Hut, einen orangefarbenen Overall, wie ihn Gefangene in US-Haftanstalten tragen, und Korkenzieherlocken. Bianca bedient souverän das Spielzeuginstrumentenarsenal, Sierra kann nicht nur Gesangs-, sondern auch Tanzmoves. Nach jedem Lied umarmen sie sich.

Das Programm besteht größtenteils aus Songs von „Heart­ache City“, ergänzt um einige Klassiker aus dem Repertoire wie „Summer Breeze“ oder „Terrible Angels“. In lilafarbenes und grünes, in orangefarbenes, weißes und Stroboskoplicht getaucht, feiern die Schwestern eine Beatbox-verstärkte Party, sodass ein Kollege irritiert in sein Smartphone notiert: „Electrodancepop wtf“.

Doch diese Musik verspricht uns mehr: CocoRosie ist ein ständiges Spiel mit Rollen und Geschlechtergrenzen, mit Verkleidungen und Inszenierungen von Authentizität. Soll heißen: Das Good Girl kann immer ein Bad Boy sein und andersrum. Dafür ist es vollkommen egal, ob du zuerst Girl, Boy oder whatever warst und was du später wieder performen willst. Oder, dass man, wie die beiden Casadys, Mitte 30 ist und ein Album über Teenagerträume aufnimmt. CocoRosie sind Mutmacherinnen und Trostspender mit lebender Beatmaschine. Finale Botschaft aus „Lost Girls“ vom neuen Album: „Someone’s gonna take you home“. Und die Zugabe: „We are on fire“ – ein Fazit des Konzerts. So sieht man am Ende viele glückliche Gesichter. Danke, Kulturindustrie!

CocoRosie: „Heartache City“ (Lost Girl/Indigo)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen