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Zeit der Zuflucht

Besuche "nachts" von Mercedes Lauenstein

Eine junge Frau läuft im Dunkeln durch München und sucht nach Menschen, bei denen noch Licht brennt. Manche reagieren argwöhnisch, wenn sie um Uhrzeiten wie 3.53 Uhr klingelt. Sie gibt vor, sie würde über das Wachsein in der Nacht forschen. Daniel, ein Schlagzeuger mit Liebeskummer, findet ihr Projekt verstörend. Andere bitten sie ohne Umschweife in ihre Wohnung – wie Hanna, die für die Uni liest, obwohl sie exmatrikuliert ist, oder Hardy, ein Zahnarzt im Ruhestand, der seine Tagebücher sortiert.

Was das Debüt „nachts“ der 27-jährigen Autorin Mercedes Lauenstein so besonders macht, ist seine Form und die Rolle der Ich-Erzählerin. Die 25 Nachtbesuche bilden abgeschlossene Einheiten, die vom Geheimnis um die Ich-Erzählerin zusammengehalten werden. Sie verrät fast nichts von sich – weder ihren Namen noch wie sie tagsüber lebt. Ihre Einsamkeit treibt sie an und blockiert sie zugleich. Wenn ihr jemand eine Frage stellt, weicht sie aus.

Das steht im Kontrast zum Einblick in die Privatsphäre der anderen Figuren. Die meisten sind einsam und unglücklich. Einige von ihnen haben einen Verlust erlebt, zum Beispiel eine Trennung oder einen Todesfall. David war 15 Jahre in der Welt unterwegs, sein Freund Ivo ist an Krebs gestorben, jetzt ist er erschöpft. Er lächelt müde. Die Ich-Erzählerin schildert detailliert, wie die von ihr besuchten Personen aussehen, wohnen und sich verhalten. Die Sprache bleibt schlicht. Bei der Sekretärin Katy riecht es nach der Säure des braun gewordenen Apfelstrunks auf der Fensterbank. Grotesk verläuft der Dialog mit dem Verrückten Egon: „ ‚Ich hab dich schon mal gesehen‘, sagt er wieder. ‚Wo denn?‘, sage ich. ‚Mit dem Käsebrot am Teppich und hier drüben als Blume.‘ “

Eine melancholische Atmosphäre durchdringt das Buch. Alle Charaktere, einschließlich der Erzählerin, befinden sich in einem Schwebezustand. Sie fühlen sich anders als alle anderen, wissen jedoch nicht, wer sie sind. Es sind Menschen, die viel nachdenken und keine Lösung finden. Die Nacht bietet ihnen eine Zufluchtszeit.

Julika Bickel

Mercedes Lauenstein: „nachts“. Aufbau, Berlin 2015; 191 Seiten, 18,95 Euro

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