: Hektisch wie ein Hamster
Schach Bei der in Berlin laufenden Weltmeisterschaft im Blitz- und Schnellschach sind neben Magnus Carlsen, dem unangefochtenen Star, auch coole Favoriten, nervöses Herumhibbeln, schicke Jutebeutel und vor allem sehr viel beredtes Schweigen zu bewundern
aus Berlin Patrick Loewenstein
In der Berliner Innenstadt demonstrieren nach Polizeiangaben 150.000 Menschen gegen das Freihandelsabkommen TTIP. Die Lautstärke der Abschlusskundgebung erinnert an ein Heavy-Metal-Konzert. Wenige hundert Meter entfernt ist es deutlich stiller. Am Spreebogen finden die Weltmeisterschaften im Schnell- und Blitzschach statt. Es ist das mit 161 teilnehmenden Großmeistern am stärksten besetzte Turnier in der Geschichte der Schachvarianten mit verkürzter Bedenkzeit. Die Weltspitze ist versammelt: Magnus Carlsen (Norwegen, Titelverteidiger in beiden Disziplinen), Viswanathan Anand (Indien), Vassily Ivanchuk (Ukraine), Alexander Grischuk,Wladimir Kramnik und Sergej Karjakin (alle Russland).
Das Gebäude der ehemaligen Bolle-Meierei hat unverputzte Backsteinwände und Holzdecken, an denen Kronleuchter aus leeren Milchflaschen hängen. Im Turnierraum stehen auf einem niedrigen Podest 4 Tische für die Topspieler, weitere 60 auf beiden Seiten des Saales verteilt, dazwischen das bunt gemischte Publikum. Die Spieler, meist zwischen 20 und 30, zeichnen sich durch auffallenden Mangel an Stilsicherheit in Bekleidungsfragen aus. Mit einer Ausnahme tragen an den Topbrettern bei der zweiten Partie des Eröffnungstags alle Jeans, die zu kurz oder zu lang sind.
Es wird kein Wort geredet. Der Saal ist brechend voll, aber man hört keinen Laut. Selbst nach Siegen des Publikumslieblings Carlsen gibt es keinen Applaus. Die Spieler schweigen vor, während und nach der Partie. Sie geben sich zweimal die Hand – zur Begrüßung und wenn der Verlierer die Niederlage eingesteht.
Die Zeiten grantiger Russen wie Anatoli Karpow oder paranoider Exzentriker wie Bobby Fischer scheinen vorbei. Die Spieler sind nett und umgänglich. Von Psychotricks ist nichts zu sehen. Kein Fingerknacken, Stühlerücken, Auf-dem-Tisch-Trommeln. Vielfältig dagegen die Methoden, Nervosität auszudrücken: mit den Beinen im Nähmaschinentakt wippen, die Finger verknoten, Hände vors oder ins Gesicht, Lippen kneten, aufstehen und zwischendurch mal auf die anderen Bretter gucken.
Während der 25-jährige Karjakin vor Beginn wie ein Hamster hektisch Erdnüsse einwirft und später ständig mit den Augen zwinkert, zeichnet sich sein Geger Gojewski (Polen) dadurch aus, dass sein Körper permanent leicht vibriert. Karjakin, der mit zwölf Jahren bislang jüngste Großmeister, gewinnt nicht nur diese Partie. Er liegt nach dem ersten Turniertag in Führung, am Montag wird der Schnellschach-Weltmeister feststehen, am Mittwoch der im noch fixeren Blitzschach.
Der Russe Grischuk wirkt eher lässig. Er hat seine Beine von außen um den Chromschwinger-Stuhl gewickelt und sitzt als Einziger breitbeinig auf seinem Stuhl, so wie man es von jungen Männern aus der U-Bahn kennt. Seine einzige Geste der Nervosität: Er reibt ständig mit dem Zeigefinder die Daumeninnenseite auf und ab. Nach dem siegreichen Ende seiner Partie dreht er eine Runde durch den Saal und guckt, was die Konkurrenz so macht. Ivanchuk, der einzige ältere der acht Männer auf dem Podest, hängt tief über dem Brett und wirkt, als würde er gleich einschlafen. Nach dem Matt gegen Malakhov steht er auf und seufzt. Er ist der Einzige, der nach dem Spiel einen Laut von sich gibt.
Magnus Carlsen ist der Superstar der Schachszene. Der 24-jährige Norweger ist der Einzige, der Sponsorenlogos auf seinem marineblauen Jackett trägt. Im zweiten Spiel tritt er gegen den Deutschen Wagner an. Die beiden sind schnell fertig. Und sie bauen als einzige der Topspieler ihre Figuren wieder auf. Danach schnappt sich Wagner seinen Jutebeutel und die beiden verschwinden einträchtig hinter der Bühne – so als wäre nichts passiert.
Während rund um die 60 Tische gespannte Stille herrscht, wird ausgerechnet neben den Topbrettern laut geredet. Ein Security-Mann mit „All Access“-Schild um den Hals deklamiert in für alle gut hörbarem Berlinerisch, dass ihn Schach nicht die Bohne interessiere. Dann kommt ein Schiedsrichter, der sehr böse gucken kann, und es ist wieder still. Der Schiedsrichter hat eine Zeitschrift in der Tasche, auf der zu lesen ist: „Der schnellste Weg zur Traumfigur“.
Vor dem Turniersaal kommentiert ein skandinavischer Experte auf einer Leinwand übertragene Spiele und sagt so schöne Dinge wie „now he just use the Zugzwang“. Dort findet außer Konkurrenz das Turnier „Alt gegen Jung“ statt. Es spielt unter anderem der 1936 geborene Josip Shapiro von Berolina Mitte. Sein Gegner: Bao Anh Le Bui vom SV Mattnetz Berlin, Jahrgang 2006.
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