piwik no script img

Popsüße Einheit

3. Oktober I Zehntausende feiern das Jubiläum der Wiedervereinigung mit Konzerten, Würstchen und Riesenrad am Brandenburger Tor. Auch eine Flüchtlingsdemo gibt es

Haarige Angelegenheit: Lenas Auftritt beim Einheitskonzert am Brandenburger Tor Foto: Jörg Carstensen/dpa

von Julia Schnatz

Es sieht so einfach aus: Felix Jaehn dreht an ein paar Scheiben, drückt hier und da mal einen Knopf an seinem DJ-Pult – schon ist das Publikum am Brandenburger Tor in Feierstimmung. Am Samstag legte der 21-Jährige zum Festival der Einheit auf, um mit vielen Zehntausend Menschen das 25. Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung zu feiern.

Jaehn ist derzeit einer der gefragtesten Popmusiker weltweit, er mixte mit „Cheerleader“ einen Welthit, der auf Platz 1 in den US-Charts landete – seit 1989 ist das keinem deutschen Künstler mehr gelungen. Der 1994 geborene Musiker hat die Wiedervereinigung selbst aber gar nicht miterlebt; er weiß nur aus den Erzählungen seiner Eltern, dass während der Teilung Deutschlands die Mauer direkt durch den Garten der Familie in Mecklenburg-Vorpommern verlief. „Für mich ist das unvorstellbar. Wir wohnten an einem Fluss und bevor die Mauer gefallen ist, konnte man das Gewässer tatsächlich nicht sehen“, berichtet er.

Für Jaehn ist der Auftritt vor dem Brandenburger Tor nur ein Stopp auf der Durchreise: In den nächsten Tagen stehen Konzerte in Stockholm und Toulouse an. Er ist am Samstag früh nach Berlin gekommen und nutzt die Zeit für Treffen mit Fans, signiert seine CD und macht ein paar Fotos am Brandenburger Tor.

Hier herrscht am Samstag schon ab 15 Uhr Ausnahmezustand, denn kurz nach Beginn des Festes riegelt die Polizei das Gelände rund um den Pariser Platz weitgehend ab – wegen Überfüllung. Vor den Absperrungen versucht ein Polizist eine Gruppe Engländer zu beruhigen: „Es sind einfach zu viele Leute.“

Mehr Hunderttausend Menschen drängeln sich nach Angaben der Organisatoren auf der Straße des 17. Juni: Familien mit Hawaii-Ketten in Deutschlandfarben, verirrte Touristen mit Reiseführer und Studenten mit Wein im Tetrapak zieht es gleichermaßen zur Meile zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule. Das musikalische Nachmittagsprogramm plätschert so vor sich hin, die Besucher schlendern über das Festgelände und drehen eine Runde mit dem Riesenrad. Eine Demonstration für Flüchtlinge bahnt sich den Weg durch die wartende Menschenmenge hinter den Absperrungen, es werden Handzettel verteilt, auf denen man lesen kann: „Our borders still kill“. Die meisten davon findet man nach der Veranstaltung im Müll. An diesem nationalen Feiertag scheint es, als wollten die Leute nichts über die Flüchtlingskrise hören, sondern lieber in ihren Erinnerungen an die bewegende Zeit der Wiedervereinigung schwelgen. Eigentlich egal, ob man sie tatsächlich miterlebt hat oder nicht, die Sonne scheint und das Bier ist kühl. Ein Grund zu feiern.

Trabis auf der Leinwand

Viele Künstler, die an diesem Tag auftreten, waren zur Zeit der Wende noch nicht geboren. Lena Meyer-Landrut zum Beispiel, die erst einmal ein Selfie mit dem Publikum macht und dann ein Lied spielt. Die Wiedervereinigung Deutschlands spielt dabei weniger eine Rolle. Bewegend sind die Aufnahmen vom 9. November 1989, die zwischen den Auftritten der Musiker eingeblendet werden: Trabis, die die Grenze überqueren, Menschenmengen, die den Fahrzeugen aufs Dach klopfen, und schließlich Ronald Reagans berühmter Satz „Mister Gorbatschow, tear down this wall“, erzeugten bei den meisten Besuchern Gänsehaut – ob man damals dabei gewesen ist oder nicht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen