: Das Misstrauen der Heime
EHRENAMT WG-BegleiterInnen und Ombudspersonen helfen Assistenzbedürftigen bei Alltagsproblemen. Doch die freiwilligen HelferInnen sind nicht überall willkommen
von Sophia Liebig
Für einen kurzen Moment wird es unruhig am Tisch. Rolf betritt die aufgeräumte Küche seiner Wohngemeinschaft im Osten Hamburgs. Der junge Mann spricht schnell und laut, er ist verärgert: Sein Mitbewohner hätte das an ihn adressierte Paket nicht annehmen sollen, findet er. Anja Freese lächelt. Gelassen schiebt sie ihre Brille ein klein wenig höher und wartet ab. Solche Unterbrechungen bringen die 49-Jährige längst nicht mehr aus der Ruhe. Seit sieben Jahren ist die gelernte Pflegekraft ehrenamtlich als WG-Begleiterin tätig. Sie unterstützt Menschen mit leichter Behinderung und Demenzerkrankte.
Rolf und seine Mitbewohner Ronny, Marcel und Nils wohnen seit Kurzem eigenständig zusammen. Damit das reibungslos funktioniert, hat Anja Freese mit ihnen in den letzten Wochen einen Wohnvertrag ausgearbeitet. Heute sitzen sie ein letztes Mal bei Kaffee und Schokolade zusammen und besprechen die abschließenden Details. Es geht um die Einrichtung einer Haushaltskasse und das Auswahlverfahren für neue Mitbewohner. Begriffe, welche die jungen Männer nicht verstehen, erläutert Freese versiert und mit präzisen Worten.
Was heute routiniert abläuft, war für sie zu Beginn eine echte Herausforderung: „Ich war mir nicht sicher, ob ich der Situation gewachsen sein und ob ich die richtigen Tipps geben würde“, erinnert sie sich. 2008 war die Ehrenamtliche bundesweit eine der Ersten, die eine Schulung zur WG-Begleiterin erhielt: „Ich bin eine der Pionierinnen“ sagt sie lächelnd. Was als neue Idee im kleinen Rahmen begann, ist heute ein etabliertes Projekt der Stadtentwicklungsgesellschaft Stattbau Hamburg.
„Hauptziel ist es, die Wünsche von pflege- und assistenzbedürftigen Menschen stärker einzubeziehen und so eine Verbesserung ihrer Lebensqualität zu erreichen“, sagt Projekt-Koordinatorin Martina Kuhn von Stadtbau Hamburg. Mittlerweile können Interessierte zwischen drei Tätigkeiten wählen. Neben dem Ehrenamt als WG-BegleiterIn können sie sich auch als WohnpatIn einbringen. Sie übernehmen dabei für ein bis drei Stunden in der Woche die Betreuung eines assistenzbedürftigen Menschen. Neu ist die Schulung zur Ombudsperson. In dieser Funktion vertreten Ehrenamtliche die Interessen von Menschen, die in Heimen leben.
Die ehrenamtliche Arbeit beginnt dann, wenn das Essen nicht schmeckt oder die Organisation des Sommerfestes zu scheitern droht. Es seien vor allem Menschen aus dem Bildungsbürgertum, die sich für die angebotenen Ehrenämter interessierten, sagt Kuhn. Lehrer, Hausfrauen, Gerontologen und kaufmännische Angestellte hätten sich schon bei ihr gemeldet. Die Altersspanne reiche von 37 bis 75 Jahren.
Im Vorgespräch achte sie vor allem darauf, dass keine Vorurteile gegenüber Menschen mit Handicaps oder Migrationshintergrund bestünden, erzählt die Projektkoordinatorin. Zusätzlich müssten BewerberInnen eine „offene Einstellung zu verschiedenen Menschen“ mitbringen. Wer diese Voraussetzungen erfüllt, muss erst einmal die Schulbank drücken.
Die Schulung der Ehrenamtlichen ist in drei Phasen aufgeteilt, erklärt Schulungsleiterin Sabine Wannags von der Alzheimer Gesellschaft Hamburg. Der Verein ist der Kooperationspartner von Stattbau Hamburg. Zwanzig Wochenstunden dauert die Basisschulung. Hier werden allgemeine Themen für alle drei Ehrenämter vermittelt. Die SchulungsteilnehmerInnen erhalten einen Einblick in die Grundlagen der Mediation und Gesprächstechnik. Dann folgt in Form einer Hospitation in einer WG oder einem Pflegeheim der erste Einblick in die Praxis, bevor es erneut auf die Schulbank geht: Je nach gewähltem Ehrenamt werden nun spezifische Kenntnisse vermittelt.
Die Schulung zur/zum WG-BegleiterIn, WohnpatIn und Ombudsperson wird ausschließlich von Stattbau Hamburg angeboten. Informationen: www.stattbau-hamburg.de.
Die „Engagement-Datenbank Hamburg“ gibt überdies einen Überblick über weitere Möglichkeiten der ehrenamtlichen Mitwirkung. Informationen: www.engagement-hamburg.de.
Die Hamburger Freiwilligenagenturen haben ihre Angebote in einer gemeinsamen Online-Suche zusammengefasst: www.freiwillig.hamburg.de.
Auch Hilfsorganisationen wie Caritas und das Deutsche Rote Kreuz suchen und schulen InteressentInnen für die ehrenamtliche soziale Arbeit.
Die Schulungen seien jedoch nur der erste Schritt zum Ehrenamt, sagt Wannags: „Wir erwarten nicht, dass die Ehrenamtlichen danach komplett ausgebildet sind. Es dauert lange, bis sie dann wirklich alleine laufen können.“ Selbst für die Erfahrenen gebe es regelmäßige Treffen, in denen sie sich über das Erlebte austauschen können. Das bereitet die freiwilligen HelferInnen auch auf ihre nächsten Einsätze vor – auch auf mögliche Konflikte.
Denn nicht überall werden die Ehrenamtlichen mit offenen Armen empfangen. Besonders mit Heimen sei die Zusammenarbeit oft schwierig, sagt Wannags. „Die Heime lassen sich nicht so gerne auf die Finger schauen.“ Externe Personen, also auch Ehrenamtliche, würden dort häufig als bedrohliche Kontrollinstanz angesehen. Den Heimleitungen müsse erst vermittelt werden, dass es den freiwilligen HelferInnen nicht um Kontrolle gehe. Das Vertrauen der Heime zu gewinnen und über die Arbeit der Ehrenamtlichen aufklären, „ist eine Lanze, die erst gebrochen werden muss. Und daran muss hart gearbeitet werden“, sagt Wannags.
Nach anderthalb Stunden packt Anja Freese ihre Sachen wieder zusammen, der Wohnvertrag ist fertig. Sie ist zufrieden: „Ich glaube, ich habe der WG geholfen, ihr Miteinander zu strukturieren und manche Fragen zu klären.“
Mit ihrer Arbeit will sie langfristig viel bewirken, auch im eigenen Interesse: „Ich finde es toll, dass ich das jetzt mitgestalten kann und hoffe, dass dies Einfluss auf die Zukunft hat.“ Denn in einigen Jahren sei sie vielleicht auch auf Betreuung angewiesen – und in ein Pflegeheim möchte sie dann nicht. Lieber will sie in einer Wohngemeinschaft leben.
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