Lyrik Luzides und Liquides: Der Band „Lichtveränderung“ von Tom Schulz beweist viel Musikalität und durchquert weite Landschaften von Kindheit, Liebe und Trauer
: Griff ins Herz

Es soll keiner sagen, wir seien nicht vorgewarnt. „Versteh mich nicht falsch. / Nur eine Zeile. Was du denkst oder isst, gehört dir.“ Doch was verleiben oder bilden wir uns da eigentlich ein? Was passiert uns da „(a)us der Lichtuniversität“? „Nur das Licht. Lumiere. Leicht zu denken. Auch dies.“ Dass Gedichte kleine anarchische Testgebiete der Sprache sein können, beweist der neue Band des Lyrikers Tom Schulz vorzüglich. Ihre zarte Instabilität ist der Garant für Freiheitsspielräume, in denen vieles gefügt und wechselseitig füreinander durchlässig wird, was verschiedener nicht sein könnte. „Spring- oder Sprengkraut“, „Eingewecktes / in Nächten“, „statt Tränen Bärendreck“, „Notstromaggregat Deutschland“, „Brosamen, Amen“, „epi­pha­nische(r) Schnee“ und „Rum­melplatzblut“.

„Lichtveränderung“ heißt dieser Band. Bereits der Titel benennt die Möglichkeit, die zur Helligkeit der Sprache gebrachten Sachverhalte könnten changieren und so sich einem einsinnigen Verstehen in leichten poetischen Volten entziehen, um im selben Moment, in anderem Lichte besehen neue Luzidität zu erlangen. Oder aber auch, um neue Schattenrisse und Texturen zu zeichnen durch ebenso fein-, wie manchmal auf den ersten Blick verwirrend unsinnige, dann aber konsequent wortwörtliche Um- und Weiterschreibungen der sogenannten Wirklichkeit.

So markieren diese Gedichte weit verstreute Umschlagpunkte eines prozessualen Wahrnehmens, das uns die Welt in all ihrer (Über-)Fülle verbürgt. Während der Lifestream abläuft und das Kopfkino nicht eindeutig zwischen Wachen und Träumen zu unterscheiden weiß, entwerfen sie in Traum- und Erinnerungsprotokollen das Bild, das wir uns von ihr – und uns – machen. „Dass wir vergaßen aufzuwachen, mag der Beweis / sein, dass wir früher viel eher schliefen. Dass wir schliefen, bevor der Schlaf, / ein Gebirge, auf uns nieder kam.“

Geboren wurde Tom Schulz 1970 in der Oberlausitz, aufgewachsen ist er in ­Ostberlin. In seiner Lyrik sind die DDR- „Sprachapparate“ mit ihrer Diskrepanz von Schein und Sein ein ferner Resonanzraum seiner poetisch-sprachkritischen Haltung offiziellen Sprechweisen gegenüber, aber auch der konventionellen und oberflächlichen Alltagssprache; wenn allzu bequem das Falsche sich im vermeintlich Richtigem einzurichten sucht in Stereotypen, reagiert er hoch sensibel. Den Sprachschatz und Bildpool, der sich ihm dabei bietet, achtet er jedoch keinesfalls geringer als den dichterisch lizenzierten. Es zeigt sich hier ein tief wurzelnder Sprachwitz, der auch ein mediales Inver­sions­gefälle nicht scheut, wie bereits Jean Paul den Humor als das „umgekehrte Erhabene“ ausmacht – und dadurch beides rettet: die Sehnsucht und die Ernüchterung.

Denn beide richten sie ihren Blick in einer das Ich verunsichernden und oft im absurden Widerspruch bestätigenden Weise auf die Undurchdringlichkeit einer für Geschichten offenen Wirklichkeit: „Versteh mich nicht falsch. Mein Kopf badet in / der Sonne. Ich bestehe fast nur aus Wasser. Wenn ich einen Gedanken fasse, / gluckert es. Als wäre etwas im Fluss. [. . .]“ Luzides und Liquides, „wie gesagt / in Urin steckt Ruin“, und über allem ein hohes Maß an Musikalität und Vertrauen in die klanglichen Qualitäten der einander scheinbar noch entferntesten Worte, das zeichnet diese gelassen unruhigen, vom mimetisch abbildenden Realismus ins traumhaft Surreale manchmal abrupt umschlagenden, dann wieder sanft hinübergleitenden 47 Gedichte dieses Bands aus.

„Bitte weine nicht. Um das Gedicht. Es greift. Ans schlimme Bein, / den blinden Fleck“

Sie durchqueren dabei weite Landschaften von Kindheit, Liebe und Trauer, einer allgegenwärtigen Natur, von Städten und Reisen in die Provinz und ferne Länder; sie überraschen, indem sie zeigen, dass das Heitere ernst, das Ernste heiter genug sein kann, um unser Verstehen als nur vage ausgeleuchtet zu erweisen. Und dass poetische Luftveränderung immer gut ist für einen „Griff ins Herz“: „Bitte weine nicht. Um das Gedicht. Es greift. Ans schlimme Bein, / den blinden Fleck. Sieh doch, wir werden immer leichter von Begriff. / Künstliche Gelenke und Organe quietschen leise. Wenn es klingelt, ist es / der Mann in einem weißen Kittel.“

Andreas Kohm

Tom Schulz:„Lichtveränderung“. Hanser Verlag, Berlin 2015. 96 Seiten, 15,90 Euro