Bibliothek von Alexandria? Brewster Kahle will mehr als das Foto: Lianne Milton/NYT/Redux/laif

„Lasst uns mehr tolles Zeug hochladen!“

SAVE Seit fast 20 Jahren arbeitet der Informatiker Brewster Kahle daran, das Internet zu archivieren. Sein Ideal: universeller Zugang zu Wissen. Würden sich nur Regierungen und Firmen nicht so querstellen…

INTERVIEW Lalon Sander

taz: Herr Kahle, vor fast 20 Jahren haben Sie das Internet­archiv archive.org gegründet – eine gemeinnützige digitale Bibliothek. Inzwischen finanzieren Sie Wohnungen und sagen, dass sei im Prinzip ganz ähnlich. Wie das?

Brewster Kahle: Ich interessiere mich für nachhaltige Systeme und beide Projekte zielen darauf ab, etwas Nachhaltiges aufzubauen. Die USA haben sich seit meiner Kindheit stark verändert – damals hat die Regierung noch Bibliotheken selbst gebaut. Jetzt betreibe ich seit 1996 eine Bibliothek des Internets. Unser Wohnprojekt wiederum zielt darauf ab, dass unsere Angestellten sich nicht verschulden – nachhaltiges Wohnen, gewissermaßen. Der größte Teil der Ausgaben des Internet­archivs fließt in Löhne und wir haben festgestellt, dass davon ein großer Anteil dafür verwendet wird, Kredite für Wohnungen abzubezahlen. Wir dachten uns, dass wir nicht mit so viel Mühe Geld sammeln, um die Zinsen von Banken zu bezahlen, und haben deshalb eine Kreditgenossenschaft für unsere Angestellten gegründet. All diese Dinge habe ich vom Internet gelernt. Jetzt hacken wir das Wohnungssystem!

Ginge das denn nicht auch anders?

Das Banksystem in den USA bewegt sich in die falsche Richtung. Jedes Jahr werden Hunderte kleine Kreditgenossenschaften geschlossen und nur eine Handvoll neue genehmigt. Was ich aber vom Internet gelernt habe, ist: Es lohnt sich, dezentralisierte Systeme zu bauen, die sind stabiler. Das machen wir auch im Internetarchiv, zum Beispiel, wenn wir Filme über Bittorrent zur Verfügung stellen und auf Wunsch unsere Angestellten in der Digitalwährung Bitcoin bezahlen.

Aber: Ist Ihr Internetarchiv nicht gerade ein Beispiel für Zentralisierung? Sie wollen dort doch das ganze Wissen der Menschheit sammeln und sprechen von der Bibliothek von Alexandria 2.0.

Es soll eine bessere Version der Bibliothek von Alexandria werden. Das Einzige, was die meisten Menschen über die Bibliothek von Alexandria wissen, ist, dass sie brannte und deshalb das gesamte in ihr enthaltene Wissen verloren ging. Bibliotheken befinden sich derzeit in einer Phase des Umbruchs: viele wissen nicht, wie sie mit digitalen Informationen verfahren sollen, die sich ständig verändern. Wir machen das vor, aber wir arbeiten auch mit vielen zusammen, um diesen Übergang zu gestalten. Wir digitalisieren ihre Bestände oder helfen ihnen, ähnliche Dienste wie unsere aufzubauen. Wir sind eine Bibliothek unter vielen.

Mit ihren Versuchen, Bücher, Filme, Musik und sogar Computerspiele allgemein zugänglich zu machen, haben Sie immer wieder Schwierigkeiten bekommen. Der Staat interessierte sich für Ihre Nutzerdaten

Ja, wir haben mal einen „National Security Letter“ vom FBI bekommen und sollten alle Verbindungsdaten unserer Nutzer bekannt geben – also wer wann was abgerufen hat. Aber zu überwachen, was die Leute lesen, hat eine lange und üble Tradition, wie man in Deutschland weiß. Wir haben deshalb die Regierung verklagt – und gewonnen. Es werden Hunderte solche Briefe rausgeschickt und bisher wurden nur drei zurückgenommen: also unserer und die von zwei anderen Institutionen.

Ärger gab es aber auch mit Unternehmen, die verhindern wollten, dass Inhalte auf archive.org kostenlos abrufbar sind.

Brewster Kahle

Der 54 Jahre alte US-Amerikaner ist Informatiker, Unternehmer und Netzaktivist. 1996 gründete er das Internetarchiv archive.org, das in regelmäßigen Abständen die Inhalte von Webseiten archiviert. Inzwischen sind dort auch Bücher, Filme, Musik und Computerspiele verfügbar.

Mit den Firmen ist das eine andere Sache. Wir versuchen zu respektieren, dass Leute mit diesen Dingen Geld verdienen wollen, und agieren deshalb ganz transparent: Wir sagen: „Schaut her, wir sind gemeinnützig und wollen hier kein Geld verdienen.“ Wir versuchen zu erklären, was unser Anliegen ist. Wir sprechen die ursprüngliche Motivation von Menschen an. Niemand arbeitet bei Buchverlagen, um viel Geld zu verdienen. Man arbeitet dort, um von Büchern umgeben zu sein. Und viele Leute freuen sich, dass wir ihre Arbeit erhalten wollen.

Wie bekommen Sie das hin?

Wir suchen uns ein System in jeder Branche, das funktioniert. Bei Internetseiten archivieren wir einfach alles, außer wenn wir verpflichtet werden, Inhalte zu entfernen. Das sind wöchentlich 1 Milliarde Web­sites. Für Bücher, die noch nicht gemeinfrei sind, haben wir ein digitales Verleihsystem entwickelt. Fernsehen kann man sich in Ein-Minuten-Ausschnitten anschauen und ganze Sendungen als DVDs kaufen. Wir haben eine Plattform programmiert, auf der alte Computerspiele jetzt im Browser gespielt werden können. Da haben wir alles hochgeladen, bis uns einige Firmen anriefen und sagten: „He, das verkaufen wir doch noch!“ In diesen Fällen nahmen wir es wieder runter von der Plattform, aber 95 Prozent sind noch da. Es geht uns ja darum, dass es für alle einen Zugang zu Informationen gibt – das muss nicht kostenlos sein.

Und interessiert die Leute das?

Wir haben täglich 2 bis 3 Millionen NutzerInnen. Das alte Zeug fasziniert Leute. Ich finde, eine Bibliothek sollte alles be­inhalten, damit man Sachen lernen kann. Leute lernen davon – und wenn diese Inhalte nicht im Netz sind, ist es, als würden sie nicht existieren. Mein Traum ist universeller Zugang zu allem Wissen. Lasst uns mehr tolles Zeug hochladen! Das könnte der Beitrag unserer Generation zur Welt sein.

Archive.org ist der Ort, an dem man alte Versionen von Webseiten einsehen und nachlesen kann. Ist das nicht eher eine Aufgabe für den Staat als für eine private Stiftung?

Diese Aufgabe haben wir erfunden, die gab es vor uns nicht. Klar, ich fände es super, das alles nicht mehr machen zu müssen, wenn Regierungen und öffentliche Bibliotheken das machen würden. Aber die können oder wollen das nicht. Wir haben mal der „Library of Congress“, der Bibliothek des US-Parlaments, eine Kopie unseres Internet­archivs geschenkt: eine Skulptur mit vier Bildschirmen, die ständig irgendwelche Web­sites zeigen. Es hat 18 Monate gedauert, bis sie die angenommen haben. Vorher wollten sie, dass wir ein Dokument unterschreiben, dass wir die Rechte an all den Inhalten haben, die da angezeigt werden. Wir haben sie dann überzeugen können, dass wir das nicht brauchen.

Was ich vom Internet gelernt habe, ist: Es lohnt sich, dezentralisierte Systeme zu bauen, die sind stabiler

BREWSTER KAHLE WILL VERBREITEN UND UNAUSLÖSCHBAR MACHEN

Sie schlagen für das gesamte Internet inzwischen ein neues dezentralisiertes System vor, wollen das Netz permanent „aufschließen“. Was genau meinen Sie damit?

Seit den Snowden-Enthüllungen merken wir, dass wir zu gutgläubig gegenüber Regierungen waren. Sie machen Dinge mit dem Internet, mit denen viele Menschen nicht einverstanden sind oder die schlicht illegal sind. Man muss sich gut überlegen, was man sagt, und davon ausgehen, dass man ausspioniert wird. Manche Länder blockieren manche Seiten komplett. Das müssen wir ändern. Das Netz ist zurzeit nicht sicher, nicht privat, macht aber Spaß. Wir sollten das Netz so neu bauen, dass es Spaß macht, aber auch sicher ist und die Privatsphäre schützt. Mein Vorschlag wäre ein dezentrales Netz, in dem Inhalte nicht nur an einer Stelle vorgehalten werden, sondern an vielen. Wenn jemand dann versucht sie an einer Stelle zu löschen, kann man sie irgendwoanders abrufen.

Glauben Sie, wenn so was entwickelt würde, würden diese Regierungen das zulassen?

Regierungen sind große Organisationen mit vielen verschiedenen Interessen. Das US-Außenministerium finanziert beispielsweise TOR, ein System mit dem man sich zumindest teilweise der Spionage der NSA entziehen kann. Seit Snowden tut sich technisch vieles – verschlüsselte E-Mails, mehr Websites nutzen https – aber noch nicht genug bei Gesetzen. Das muss sich ändern.