: Auf den Ossi gekommen
Nach der CDU wird jetzt auch die SPD von einem gelernten DDR-Bürger geführt. Das zeigt nicht, wie gut die Vereinigung gelungen ist, sondern wie tief die Krise der Volksparteien ist
VON ROBIN ALEXANDER
Noch einer von drüben. Mit Matthias Platzeck als SPD-Vorsitzenden wird sich die Republik an einen weiteren Ostdeutschen an der Spitze einer Volkspartei gewöhnen müssen. Gemeinsam mit Angela Merkel wird er bald sogar das Land regieren: Ossis an der Macht. Seltsame Zeiten.
Wirklich? Ist es nicht vielmehr normal, dass auch Menschen aus den fünf neuen Ländern in nationale Spitzenpositionen gelangen? Sind Platzeck und Merkel nicht Ausdruck einer Normalität im fünfzehnten Jahr der Wiedervereinigung, wo Ossi und Wessi als Kategorien endlich ausgedient haben? Mitnichten.
Denn SPD wie CDU sind Westorganisationen geblieben, die im Osten nur Funktionärs- und keine Volksparteien sind. Mitgliederstruktur und Einfluss haben sich seit der Wende nur wenig verändert: Noch immer ist allein der SPD-Bezirk Westliches Westfalen mindestens so mächtig wie alle ostdeutschen SPD-Landesverbände zusammen. Noch immer kann – wie bei Hartz IV – geschehen, eine Reform in kompletter Ignoranz der ostdeutschen Interessen- und Gemütslage beschlossen und durchgezogen werden.
Genauso verhält es sich mit den einflussreichen Positionen in Staat und Gesellschaft: die Entscheider in Unternehmen und Behörden, die Lehrstuhlinhaber und Redaktionsleiter stammen zwischen Rügen und dem Erzgebirge noch immer vor allem aus dem Westen. Daran ändern einzelne Personalien nichts, auch wenn es sich um Spitzenpersonalien handelt. Der Erfolg von Platzeck und Merkel gibt uns vielmehr eine Lektion über das auf der Linken völlig überschätzte Prinzip der Repräsentation: Der Mann oder die Frau an der Spitze macht eben, wenn überhaupt, nur einen sehr kleinen Unterschied. Dass es bald eine Bundeskanzlerin geben wird, sagt wenig über die Lage von Frauen in dieser Gesellschaft. Dass Ostdeutsche an der Spitze der großen Parteien stehen, sagt nichts über den Erfolg der Vereinigung.
Es ist kein Zufall, dass beide große Parteien ausgerechnet in der Stunde ihrer größten Krise auf den Ossi gekommen sind. Merkel wurde CDU-Vorsitzende als im Spendenskandal kein Kandidat aus dem Westen dem anderen mehr über den Weg traute. Platzeck wird jetzt SPD-Chef, nachdem Schröder und Müntefering in einer Serie von Wahlniederlagen erst die SPD-Kaderreserve in den Ländern und schließlich sich selbst um Macht und Perspektiven gebracht haben.
Das Ossi-Label hat Merkel, gerade in Kombination mit dem Frauen-Etikett, oft genutzt: Sie wurde und wird notorisch unterschätzt. Darauf wird Platzeck nicht setzen können. Sonst gibt es Gemeinsamkeiten, die auf der Hand liegen: Platzeck wie Merkel sind in der DDR staatsfern und systemkritisch aufgewachsen. Väterlicherseits stammt Platzeck aus einer Ärztefamilie, mütterlicherseits aus einer Pastorensippe: An genau diesen beiden Milieus biss sich die in der sozialen und kulturellen Gleichschaltung sonst so erfolgreiche SED die Zähne aus.
Platzeck selbst wurde – wie die Pastorentochter Merkel – Naturwissenschaftler. Die klassische Entscheidung der Intellektuellen, die der Ideologie auswichen. Merkel und Platzeck und auch das designierte Kabinettsmitglied Wolfgang Tiefensee haben tatsächlich etwas gemeinsam, was sie von der Mehrheit der Ostdeutschen trennt: Sie sind weniger von der DDR geprägt als von der bewussten Auseinandersetzung mit ihr.
Wer mag, kann jetzt also eine umbrucherfahrene, pragmatische Generation 89 ausrufen, die antritt, uns aus der Malaise zu führen, in die uns die strukturkonservativen, ideologischen 68er geritten haben. Erhellender als solch eine Abgrenzung zu Schröder, Fischer und Co. aber ist der Blick auf die Unterschiede der einzelnen neuen ostdeutschen Protagonisten.
Für Merkel wurde die ostdeutsche Revolution allen Berichten nach erst interessant, als sie ihr Karrieremöglichkeiten bot. Platzeck hat hingegen als Umweltbewegter 1989 gehofft und gekämpft und umgibt sich bis heute mit Menschen, die damals etwas riskierten. Er ist sicher der authentischere Oppositionelle. Und genau das eröffnet ihm eine Möglichkeit, die Merkel nicht hat: Er braucht sich nicht zwanghaft von der DDR abzugrenzen.
Tut dies denn Merkel? Aber ja: Obwohl selbst ostdeutsch, betont sie ständig ihr westdeutsches Bezugssystem: die neue soziale Marktwirtschaft als Gegensatz zum pervertierten Sozialstaat, das Erbe Ludwig Erhards als Vorlage für die Fantasie einer neuen Gründerzeit.
Merkels Versprechen an die Ostdeutschen ist: Ihr könnt wie der Westen werden. Ihr könnt sogar westlicher als der Westen werden, der ja selbst gar nicht mehr an den Markt glaubt.
Platzeck hingegen ist näher bei den Ossis: Er hat nicht in Bonn, sondern in Potsdam Karriere gemacht. In Brandenburg, wo Regine Hildebrandt von „unseren Menschen“ sprach, wo Manfred Stolpe eine „kleine DDR“ am Leben hielt. Wo die Politik am konsequentesten auf Kontinuitäten, Großprojekte und Staatskohle setzte.
Hier – und nur hier – hat die SPD den Anschluss an das traurige Menschen- und Gesellschaftsbild der Mehrheit der gelernten DDR-Bürger gefunden. Platzeck teilt dies persönlich nicht, hütet sich aber davor, offen damit zu brechen.
Sein Meisterstück, das ihn schließlich zum Parteivorsitzenden qualifizierte, leistete er nicht angesichts der legendären Oderflut, sondern erst im vergangenen Jahr: Als andere sich duckten, kämpfte er auf den Marktplätzen gegen PDS und DVU und den Volkszorn (und wohl auch die eigene Einsicht) für Hartz IV. Nicht nur der scheidende Bundeskanzler Gerhard Schröder glaubt seitdem: Wenn einer die Ossis mitnehmen kann in ein Reformzeitalter, in dem sie nur verlieren können, dann Platzeck.
Auch Merkel wirbt für Reformen. Aber welch ein Unterschied zu Platzeck! Als die CDU-Vorsitzende sich noch als sichere Gewinnerin der Bundestagswahl wähnte, offenbarte sie – sehr unostdeutsch – ein geradezu ideologisches Wirtschafts- und Sozialprogramm. Und sie begründete es mit ihren Erfahrungen in der DDR. Bei Merkel flossen Sozialismus und Sozialstaat ineinander. Noch die bescheidenste Sicherung elementarster Bedürfnisse wurde zur hemmenden Fessel des selbst verantwortlichen Individuums: Die Reformpolitik von Schwarz-Gelb erschien als logische Fortsetzung von 1989.
Weiter entfernt vom ostdeutschen Mainstream kann man nicht liegen: So etwas wäre Platzeck nie passiert. Im Gegenteil: Er begründet Reformen eben nicht aus dem Menschenbild, sondern aus der Notwendigkeit. Weil es schlicht nicht anders geht. Merkel meint: Wir reformieren, weil es uns frei macht, wie 89 uns frei gemacht hat. Platzeck meint: Wir reformieren, weil es anders nicht mehr weitergeht, wie es 89 mit der DDR nicht mehr weitergegangen wäre.
Kommt die große Koalition tatsächlich zustande, haben wir eine schöne Konstellation: Merkel und Platzeck als dominierende Figuren westdeutscher Parteien begründen ihre Reformpolitik aus den eigenen ostdeutschen Erfahrungen im Umbruch. Dagegen kämpft Oskar Lafontaine für den Erhalt des alten westdeutschen Sozialstaats – gestützt auf die einzige echte ostdeutsche Partei. Seltsame Zeiten.