: Hotelzimmer mit Eigenleben
LIDOKINO 7 Langsam an den Endspurt denken: Filme von Emin Alper (Türkei), Charlie Kaufman und Duke Johnson (USA) sowie Marco Bellocchio (Italien)
VON CRISTINA NORD
Was passiert, wenn Paranoia um sich greift und der Realitätssinn sich eintrübt? Mehrere Wettbewerbsfilme in Venedig stellen sich diese Frage. Der erste, „Abluka“ („Frenzy“) von dem türkischen Regisseur Emin Alper, gibt der Verunsicherung einen politischen Rahmen, indem er einen Ausnahmezustand imaginiert.
Von Istanbul sieht man ärmliche Außenbezirke in schmutzigem Winterlicht. Die Stadt wird von Terroranschlägen heimgesucht, deren Urheberschaft diffus bleibt, die Polizei reagiert mit Repression. Ein Häftling, Kadir, wird vorzeitig entlassen, die Bedingung dafür ist, dass er sich einem Team aus Spitzeln anschließt. Kadirs jüngerer Bruder, Ahmet, verdient sein Geld, indem er streunende Hunde erschießt. In einer Szene sieht man ein paar Tiere auf einer Wiese, hinter ihnen tauchen die Hundefänger auf, legen an, zielen, drücken ab. Sobald das Geräusch der Schüsse ertönt, füllen hoch aufragende Rohbauten das Bild.
Je länger „Abluka“ voranschreitet, umso rätselhafter geht es zu. Die freundlichen Nachbarn Kadirs verschwinden, ein dritter Bruder wird seit zehn Jahren vermisst, Ahmets Frau und die Kinder sind ebenfalls fort, ohne dass irgendjemand sie suchte. Kadir wird zu seinem Verbindungsoffizier zitiert, der schlägt ihn, man weiß nicht recht, ob das tatsächlich geschieht oder ob Kadir es sich einbildet. Die freundliche Nachbarin taucht hinter dem Fenster von Ahmets Wohnung wieder auf, hält sie den jungen Mann als Geisel, wie Kadir glaubt?
Manchmal folgt auf die enigmatischen Szenen ein Aufwachen des Protagonisten, manchmal nicht, ohne dass eine Logik dahinterstünde, und leider verliert Emin Alper etwas Entscheidendes aus dem Blick: die Mischung aus nüchternem Beobachten und allegorischer Aufladung. Letztere schrillt einem so laut entgegen wie die Türglocke von Ahmets Wohnung, die Kadir immer wieder betätigt, ohne dass ihm der jüngere Bruder öffnete.
Charlie Kaufman und Duke Johnson gehen die Sache in ihrem Stop-Motion-Film „Anomalisa“ eine Nummer kleiner an – und gerade dadurch erreichen sie viel mehr. Sie schauen auf alltägliche Absurditäten, auf den Widerstand der Dingwelt, zum Beispiel auf das Eigenleben eines Zimmers in einem Kongresshotel, das seine Bewohner mit zu heißem Wasser, einer übel gesinnten Schlüsselkarte und unzähligen Telefontasten für den Zimmerservice quält. Die Hauptfigur, der Ratgeberautor Michael Stone, der einen Bestseller über den richtigen Umgang mit Kunden geschrieben hat, fällt immer wieder aus der Rolle, etwa wenn er schreiend über den Hotelflur hetzt, weil er nach jemandem sucht, der nicht existiert.
Gegen Ende hat er einen Traum, in dem ihm der Hotelmanager befiehlt, in ein riesiges Büro im Keller zu kommen. Allein der Aberwitz, mit dem Kaufman und Johnson diesen Raum gestalten, ist toll – mit Fischen in einem Aquarium, die, so der Manager, „irische Gesichter“ hätten, mit einer Grube vor dem Schreibtisch, die Michael Stone auf einem Wagen umfahren muss, bevor er dann im Vorzimmer über Schreibtische klettert, um dem Manager zu entkommen. Toll auch, wie Lisa, eine junge Frau mit einem Minderwertigkeitskomplex, so groß wie der Atlantische Ozean, „Girls Just Wanna Have Fun“singt.
Im dritten Film, Marco Bellocchios „Sangue del mio sangue“(„Blood of my Blood“), geht es weniger um den Realitätsverlust der Figuren. Vielmehr ist dem italienischen Regisseur hier ein so eigensinniger, auf Nachvollziehbarkeit pfeifender Film gelungen, dass es Respekt gebietet. „Sangue del mio sangue“ macht sich einen Spaß aus Zuschauererwartungen, indem er den ersten, zur Zeit der Inquisition spielenden Handlungsstrang um die Nonne Benedetta, die des Paktierens mit Satan verdächtigt wird, nach etwa 45 Minuten einfach abbrechen lässt.
Bellocchio springt in eine Gegenwart, die er wunderbar grotesk zeichnet, mit Witzen über das Finanzamt und über die, die es bescheißen wollen, und mit einem Vampir, der zur Wurzelzahnbehandlung zum Zahnarzt muss. Kaum hat man sich an dieses Kuriositätenkabinett gewöhnt, tritt Benedetta erneut vor die Kamera, und man fragt sich, wie viele Jahre verstrichen sind, seit man sie zum letzten Mal sah: 500, 50 oder 5?
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