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Archiv-Artikel

Kontingenzbewusstsein

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Die SPD muss sich auf ihre sozialistische Tradition besinnen und ihre Beständemodernisieren

Du, Heiner, sagt einer, deine Frau soll ja eine Granate im Bett sein. Na ja, antwortet Heiner, die einen sagen so, die anderen sagen so. (umlaufender Witz)

Wer den Witz intus hat, wird sich bald dabei ertappen, dass er seine Pointe bei höchst unterschiedlichen Gelegenheiten wiederholt. Dass Franz Müntefering jetzt den Parteivorsitz der SPD abgeben muss, ist doch eine Schweinerei. – Na ja, die einen sagen so, die anderen sagen so.

Die allgemeine Sittenlockerung nach 1968 ist eine feine Sache. – Na ja, die einen sagen so, die anderen sagen so. Der Untergang des Sowjetkommunismus hat auch Russland selbst nur Vorteile gebracht. – Na ja, die einen sagen so, die anderen sagen so. Es beweist die politische Klugheit der Briten, dass sie so entschlossen an ihrer Monarchie festhalten. – Na ja, die einen sagen so, die anderen sagen so. Das Klima kann es nicht ganz schlecht mit der Menschheit meinen, wenn es ihr einen derart schönen Oktober beschert hat. – Na ja … und so weiter.

Die Witzformel teilt die Wahrheit mit, dass man von so gut wie allen starken Aussagen auch das Gegenteil behaupten kann. Unser schöner Oktober zeigt die kommende Klimakatastrophe an; die britische Monarchie ist sklerotisch und lähmt die politischen Energien der Nation; seit dem Untergang der Sowjetunion herrscht in Russland Tohuwabohu; seit 68 breitet sich in Deutschland ein Werte- und Sittenverfall aus, der längst bedrohliche Ausmaße angenommen hat; es wurde Zeit, dass ein Veteran wie Franz Müntefering seinen Platz räumt und Nachwuchskräften Raum gibt. All das kann man ebenfalls sagen. Ein jeder kennt Leute, die der einen oder anderen Meinung sind. Die einen sagen so, die anderen so.

Und jeder weiß es. Das nennt man, um ein bisschen vornehm zu tun, Kontingenzbewusstsein. Die moderne Welt wird davon geprägt. Das macht es immer wieder schwierig, dogmatische Wahrheiten zu behaupten. So gab es im England der Fünfziger eine Philosophin namens Elizabeth Anscombe, die sich um eine Liste absoluter Verbote bemühte. Zu ihnen sollte beispielsweise der Geschlechtsverkehr ohne Prokreationsabsicht gehören; einzig zur Vermehrung der Menschen hat Gott ihre Sexualwerkzeuge erfunden. Tja, wandte ein witziger Schriftsteller ein, dann müsse man auch alle Rückspiegel an Autos und Lastwagen entfernen, denn Gott habe dem Menschen die Augen zum Nach-vorn-Sehen geschenkt. Hinten haben wir bekanntlich keine, und so ist der Rückspiegel wider den Schöpfungsplan.

Wahrheiten, die dogmatisch und autoritativ verstanden sein wollen, haben in der modernen Welt Anschlussprobleme. Aktive Sterbehilfe ist ebenso Mord wie Abtreibung und verbrauchende Embryonenforschung. Die katholische Lehre steckt voll von solchen Aussagen, auf die keiner soll reagieren können mit: Na ja, die einen sagen so, die anderen sagen so. Dogmatismus und Autoritarismus üben immer wieder einen starken Reiz aus, wie die neokatholische Schwärmerei, die zuweilen vor allem im Feuilleton ausbricht, zeigt – einen ästhetischen Reiz gewissermaßen. Denn wirklich einer Autorität unterwerfen mag sich niemand in der modernen Welt. Und Wallungen wie der Neostalinismus und der Maoismus der Siebzigerjahre erweisen sich kurze Zeit später als peinliche Verirrung; mal sehen, ob wir noch Reuebekenntnisse der Wojtyła- und Ratzinger-Fans zu hören kriegen oder ob sie das schweigend mit sich selbst abmachen. Wen wird die nächste autoritäre Mode verhimmeln? Stefan George?

Dabei bleibt das Kontingenzbewusstsein stets erhalten. Bekanntlich hält eine beachtliche demoskopische Mehrheit aktive Sterbehilfe ebenso wie Gentechnologie für eine gute Sache; Katholiken machen fleißig von den legalen Abtreibungsmöglichkeiten Gebrauch und kümmern sich nicht um die Urteile ihrer Kirchenherren. Franz Müntefering gehört zu denen, die das Programm ebenso wie den Nachwuchs der SPD ruiniert haben. Die garantierte Glaubens- und Meinungsfreiheit sorgt dafür, dass zu fast jeder Meinung die Gegenmeinung fortexistiert. Die einen sagen so, die anderen sagen so.

Freilich mag man nicht jederzeit mit der Gegenmeinung konfrontiert sein. Man sucht für sich persönlich das Meinungsmilieu, das mit den eigenen Einschätzungen einigermaßen übereinstimmt. In einem von Woody Allens Filmen entwickelt der Sohn der liberalen New Yorker Familie plötzlich rechtskonservative Ansichten, lobt die Todesstrafe und Ronald Reagans Wirtschaftspolitik – er leidet, wie sich dann herausstellt, an einer Durchblutungsstörung des Gehirns, die leicht zu beseitigen ist, so dass die alten Meinungen zwanglos zurückkehren. Vater strahlt. Was in jeder Hinsicht eine hundsgemeine Pointe ist. Wer die Todesstrafe für gerechtfertigt hält und für niedrige Steuern plädiert, dessen Kopf funktioniert falsch. So etwas darf eigentlich kein Liberaler denken, der das Kontingenzbewusstsein als Fundament der modernen Welt anerkennt.

Der Witz teilt mit, dass man von starken Aussagen stets auch das Gegenteil behaupten kann

Die Demokratie ist eine äußerst praktische Erfindung, um das Verhältnis von Meinung und Gegenmeinung zu stabilisieren. Die einen sagen so – das ist die Regierung. Die anderen sagen so – das ist die Opposition. Und nach den Wahlen können sie die Plätze tauschen, und plötzlich sagt die Regierung, was zuvor die Opposition gesagt hat. Oder es stellt sich heraus, dass beide die ganze Zeit ungefähr dasselbe gesagt und bloß bei den Unterscheidungen viel zu dick aufgetragen haben.

So brauchen wir uns keine Sorgen wegen der großen Koalition zu machen. Zwar schaut es auf den ersten Blick so aus, als wäre der Unterschied zwischen Regierung und Opposition verschwunden, und beide reden von nun an unisono. Aber es wird nicht lange dauern, da ist wieder jede Menge Gegenmeinung in der Luft. Mal sehen, woher sie kommt.

Allerdings entsteht, indem das Kontingenzbewusstsein sich ausbreitet, ein schwieriges Problem. Wenn Sie in irgendeiner hitzigen Diskussion mit unserem Satz konfrontiert werden, kühlt das zunächst einmal ab; der Satz hindert Sie daran, mit Leidenschaft Ihre Meinung weiterzuverfolgen, und das mag gesund sein, denn Sie waren ohnedies dabei, sich zu verrennen. Doch bleibt die Frage, von der die Diskussion befeuert wurde, damit ja unbeantwortet. Die SPD muss sich auf ihre sozialistische Tradition besinnen und die entsprechenden Bestände modernisieren; wer Bildung durch Schönheit will, muss die Lektüre von Stefan George verbindlich machen, und das geht nicht ohne Unterricht in Altgriechisch; die stoische als die höchste Form der Moral gebietet die Freigabe der aktiven Sterbehilfe für jeden zurechnungsfähigen Bürger; der inkompetente George W. Bush wird mit seinem illegitimen Krieg dem Irak eine glückliche Zukunft schenken – all solche richtig heißen Fragen werden durch unseren Satz von einer substanziellen Beantwortung ausgeschlossen. Der berühmte zwanglose Zwang des besseren Arguments fällt weg, denn es gibt keine besseren oder schlechteren Argumente mehr, nur noch die einen, die so, die anderen, die so sagen, und jeder verharrt ängstlich oder stolz oder frech in seinem Meinungsmilieu. Die herrlichen Zeiten des Ausdiskutierens, sie sind endgültig passé. Ist das wirklich die Lösung aller Welträtsel?

Fotohinweis: Michael Rutschky lebt als Publizist in Berlin.