: Freie Fahrt durch Österreich
Transit Österreich begrüßt die aus Ungarn kommenden Flüchtlinge herzlich. Die danken zwar, ziehen aber dennoch sofort weiter nach Deutschland
Wenige Stunden später stolperten schlaftrunkene Flüchtlinge am Wiener Westbahnhof früh zum Railjet nach München mit Planabfahrt 6.30 Uhr. Am Bahnsteig bekamen sie heißen Tee, Obst und Brot von der Caritas und freiwilligen Helfern verabreicht. Die meisten verbrachten die Nacht in einem Zug oder in Räumlichkeiten der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB).
In Sonderzügen und Bussen trafen ständig weitere Flüchtlinge vom Grenzort Nickelsdorf ein, wo sie während der Nachterstversorgt und notdürftig untergebracht wurden. „Hungary bad, Austria good!“, rief einer und fasste damit wohl die Empfindung der allermeisten Schicksalsgenossen zusammen. Mohahomayon Kabir aus Bangladesch erzählte amSamstag, er habe zwölf Tage auf dem Budapester Keleti-Bahnhof mit Hunderten anderen ausgeharrt. In die Züge nach Westen ließ sie die Polizei nicht einsteigen. So habe man sich schließlich zu Fuß auf den Weg gemacht.
Als Ungarns Behörden schließlich die Flüchtenden am Freitag einsammeln und in Bussen zum Grenzort Hagyeshalom transportieren ließ, musste Österreichs Politik reagieren. Während Tausende Menschen im Regen die zwei Kilometer bis ins österreichische Nickelsdorf marschierten, telefonierte Österreichs Kanzler Werner Faymann (SPÖ) mit Angela Merkel. Um Mitternacht kam dann grünes Licht aus Berlin.
Freiwillige, die bei der Caritas Lebensmittel, Kleidung oder Spielzeug abgaben, Geld für Zugtickets spendeten oder die Ankömmlinge mit einem warmen Applaus begrüßten, haben die Politik unter Zugzwang gebracht. Die österreichische Bevölkerung zeigt in diesen Tagen ihr menschliches Gesicht. Caritas-Präsident Michael Landau musste Samstagnachmittag dazu aufrufen, keine Lebensmittel oder Kleidung mehr zu bringen.
Menschen, die in den vergangenen Monaten ein Vermögen für Schlepper ausgegeben hatten, waren überrascht und gerührt, als sie erfuhren, dass sie kein Zugticket benötigen. ÖBB-Chef Christian Kern erklärte, es sei „sinnvoll und weise, bei der Ticketkontrolle ein Auge zuzudrücken“.
Die Polizei in Wien beschränkte sich darauf, nur so viele Passagiere in die Züge zu lassen, wie Sitzplätze vorhanden sind. „Thank you, Austria, Danke schön“, lautete die Antwort. Dennoch wollen die wenigsten Flüchtlinge bleiben. Österreich ist in der bequemen Lage, sein freundlichstes Gesicht zeigen zu können, ohne diese ostentative Gastfreundschaft auch einlösen zu müssen. Insgesamt haben in den vergangenen Tagen nicht mehr als 30 Menschen in Österreich um Asyl angesucht. Fast alle wollen nach Deutschland. Etwa 12.000 Menschen haben am Samstag und Sonntag München erreicht.
Ralf Leonhard
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