piwik no script img

Du

Wie du warst? Du hast Witze gerissen und den Raum verlassen, wenn über Sex geredet wurde. „Jetzt trinkst erst mal einen Schnaps“, hast du gesagt, wenn es jemandem schlecht ging

von Annabelle Seubert

Du hast geschnarcht in der Nacht, röchelig und laut. „Lauter als ein Mann“, haben wir gesagt, weil dich das geärgert hat. Du hast diese Unterscheidung noch gemacht: Mann schnarcht, Frau schnarcht nicht. Du hast Röcke getragen, Röcke übers Knie, und sonntags hast du dir eine Brosche angesteckt. Nach der Kirche hast du oft angerufen, kurz nach elf war es da, und deine Frage meistens gleich: „Hast schon was gegessen?“

Hunger war deine Sorge. Du hast sie mitgenommen aus den frühen Fünfzigern und aus den beiden Jahrzehnten davor, über die du irgendwann nicht mehr gesprochen hast. „Ich kann’s nicht mehr hören“, sollst du gesagt haben, Kriegsgeschichten, nicht schon wieder Hitler. Morgens bist du aufgestanden mit einem Seufzer. „Aaah-ja“ hast du gemacht und dann bist du noch sitzen geblieben auf der Bettkante, vor der die Hausschuhe standen für den Tag. Du hattest eines deiner Nachthemden an: Lang, weiß und bestickt.

Du bist zur Toilette rüber, über den Teppich geschlurft, hast die Tür zur Toilette offen stehen lassen und was erzählt. Was du geträumt hast vielleicht. Oder du hast einfach deine Sätze aufgesagt: „Es ist ein Kreuz.“ „Herrgott, nee.“ „Jetzt geht’s los, in die Hos’.“ Dauernd hast du gedichtet, Dichten war deine Selbstunterhaltung, dein Übergang zur nächsten Tätigkeit, Aufbruch!, Aufstehen! – Dichten war dein Espresso. „Gleich gibt’s Mar-me-lade. Sonst-ist-das-Le-ben fa-de.“

Drei Zuckerwürfel hast du dir in den Kaffee getan und ordentlich Kondensmilch dazu, zwischen Marmelade und Brötchen war eine Schicht Becel geschmiert. „Becel ist gesünder als Butter“, hast du gesagt, aber im Kühlschrank hattest du beides, Becel und Butter, und immer auch Biskin und Palmin.

„Bin aber spät aufgestanden heute“, hast du gesagt, dabei begann dein Tag stets um halb acht, und Großes hattest du mit dem Tag nicht vor, jedenfalls standen keine Termine an. Manchmal bist du zur Massage. Dein Masseur hat Lakritz gelutscht, während er dir den Rücken geknetet hat. „Der schmatzt“, hast du gesagt, und dass sein Enkel, der jüngste, nicht richtig für die Schule lernt. Später kam dann öfter der Arzt. „Was liegen Sie denn so da wie eine krumme Banane?“, hat er dich bei einem Hausbesuch gefragt, als du mit Schmerzen auf dem Sofa lagst. Das hast du ihm übel genommen, eine Unverschämtheit hast du es vor uns genannt. Erst später hast du drüber gelacht.

Du hast den Kaffee, der übrig blieb, in die Thermoskanne gefüllt, damit man sich nach dem Mittagessen Eiskaffee machen konnte, und nur mit der warmen Morgenbrühe schmolz das Vanilleeis wie es sollte: nicht zu schnell und nicht zu langsam. Die Thermoskanne stand im Hängeschrank links. Darunter hast du Rezepte aufbewahrt, Notizen von dir und ausgerissene Magazinseiten aus einer verlorenen Zeit, umwickelt mit einem Haushaltsgummi. Mokka-Buttercremetorte! 6 Eier, 6 Mßl. Wasser (heiß) abger. Zitronenschale. Weinbergtorte. Biskuittorte. Pfeffernüsse. Du konntest in Sütterlin schreiben.

Du bist hin- und hergelaufen in deiner Wohnung, später mit deinem Wägelchen voran, mit deiner Stütze; du hast die Blumen gegossen und aus dem Fenster geschaut und bist dann zur Apotheke oder zum Friseur und anschließend zu Rewe, zumindest seit es ihn gab – davor warst du bei Kupsch, und noch davor warst du in Läden. Unterwegs hast du Leute getroffen, die dir Komplimente gemacht haben. „Sind Sie aber braun! Waren Sie im Urlaub?“ und „Sind Sie aber schlank!“, haben die Leute gesagt, und natürlich dass du zehn Jahre jünger aussiehst, als du warst.

Du hast dich hingestellt an deinen Tisch, du hast Eier aufgeschlagen, Butter gerührt und Mehl in Emaille geschüttet. Mehl und Zucker hast du in Eimern gelagert. Du hast gequirlt und geschnitten und gewälzt und gedrückt, und wenn wir dich gefragt haben, „wie viel nimmst du hiervon?“, „wie viel Milliliter Milch?“, hast du gesagt: „Ha, ’nen Schuss.“ Oder: „Bisschen mehr als so.“

Ab halb zwölf hast du Dampf in deiner Küche gesammelt, alles floss und war fettig, und um halb eins war deine Küche wie das Atelier eines Malers, der im Rausch ein Werk erstellt hat und erst hinterher sieht, dass überall Pinsel rumliegen und Farbe von der Wand rinnt. Du warst hinterher auch erschöpft, wie es so ein Maler vielleicht wäre – den Nachmittag über, wenn die Töpfe endlich wieder ihren Ausgangspunkt eingenommen hatten und die Spüle blank war, musstest du dich hinlegen. Ein paar Essensreste hast du vorher auf den Balkon gekippt, „für die Vögel“, das hast du nicht vergessen. Es hat dich amüsiert, dass die Vögel sogar deine Spätzle geschluckt haben. Am Ende hast du ihnen Schnitzel klein geschnitten.

Du hast Witze gerissen und den Raum verlassen, wenn über Sex geredet wurde. „Jetzt trinkst erst mal einen Schnaps“, hast du gesagt und ein Glas mit Obstler gefüllt, wenn es jemandem schlecht ging. Du selbst hast dich nur wirklich beschwert, wenn eindeutig zu viele Reste an die Vögel gingen. „Ich koch nix mehr“, hast du dann gesagt, und wir erinnern dich, wie du, dünn geworden, neuerdings doch Hosen tragend, weil du besser in ihnen gehen konntest, auf deinem Holzstuhl sitzt und kaust.

Abends hast du dir Hawaii­toast gemacht, als niemand mehr Hawaiitoast aß, du hast „Unser Charly“ geschaut oder was sonst in den Öffentlich-Rechtlichen lief. Du bist lange wach geblieben, länger als wir alle; mitten in der Nacht bist du, schließlich doch eingenickt, hochgeschreckt und hast den Fernseher ausgeschaltet. Die Fernbedienung hast du dafür nicht gebraucht, du bist zur Kommode vor und hast den Ausschalter gedrückt. Die Kommode und der Ausschalter waren immer am selben Fleck – zwischen Sessel und Orchideen –, auch nach deiner Beerdigung noch, bei der der Pfarrer gesagt hat, ein Leben wie deines gebe es heute noch selten: Dass es ein selbstloses Leben war, eines für die anderen. Ein 08/15-Leben hat er wahrscheinlich gemeint, ohne Selbstverwirklichungsdrang und Konkurrenzdenken, desinteressiert vielleicht, negativ formuliert, aber wer könnte dir ernsthaft Desinteresse vorwerfen.

Im Schlafzimmer hast du vom Weihwasser genommen, „Herrgott, nee“, du hast die Hausschuhe ausgezogen, hast manchmal noch die Geschichte vom „Göckele, das Durst hat, aber kein Wasser findet“, erzählt oder ein Lied gesungen – jetzt nämlich vergingen die Minuten, in denen dir wieder Strophen und Kinderreime von früher einfielen. Du hast den Kopf auf dein steinhartes Kissen gelegt, den Unterkörper nachgezogen und geschnarcht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen