Zurück in die Zukunft

JUBILÄUM Zum 30. Geburtstag blickt das Tanztheater International in Hannover zurück. Neben Stücken von ChoreografInnen, die das Festival über Jahre hinweg begleitet hat, sind auch Stücke von Newcomern zu sehen

Menschen tanzen Maschinen: Helena Waldmanns Choreografie „Made in Bangladesh“   Foto: Georgia Foulkes-Taylor

von Beate Barrein

Grundsätzlich denke sie lieber nach vorn, sagt Christiane Winter. Und Zeit, das sei ja ohnehin „etwas Gemischtes“. Aber dieses Jahr kommt auch sie nicht ohne einen Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte aus: Seit 30 Jahren gibt das Festival Tanztheater International, das Winter seit dem Ende der 1980er-Jahre und seit etlichen Jahren im Alleingang leitet, in Hannover alljährlich Einblicke in aktuelle Entwicklungen des zeitgenössischen Tanzes. Jeweils zehn Tage lang präsentiert es an unterschiedlichen Spielorten eine Mischung aus etablierten und neu zu entdeckenden ChoreografInnen. Damit gehört das Festival bundesweit zu den ältesten seines Genres. Auch international gilt es seit Langem als Vorreiter.

Impulsgeber und Neulinge

Ein Großteil des Programms bestreiten deshalb diesmal Kompagnien und ChoreografInnen, die über viele Jahre hinweg wichtige Impulsgeber waren. Denn seit Anfang der 2000er-Jahre verzichtet Tanztheater International auf übergeordnete Themenschwerpunkte, seitdem ist die Begleitung von ChoreografInnen über viele Jahre hinweg fester Bestandteil des Konzepts.

Eine dieser Stammgäste ist die Berliner Tanzregisseurin Helena Waldmann, deren Choreografien immer schon stark von aktuellen, oft gesellschaftspolitischen Themen beeinflusst sind. Für ihr Stück „Made in Bangladesh“ hat sie vor Ort über die Arbeitsbedingungen in den dortigen Textilbetrieben recherchiert. Zurückgekehrt ist sie mit Kathak-Tänzerinnen und -tänzern. Den klassisch indischen Tanz mit der rhythmischen Fußarbeit verknüpft Waldmann nun mit Videos und lässt die Tänzer die Maschinen verkörpern – menschliche Maschinen, wie es letztlich auch die 1.100 ArbeiterInnen waren, die vor zwei Jahren beim Einsturz eines Fabrikgebäudes in Dhaka getötet wurden.

Ein alter Bekannter ist auch das Theaterkollektiv Peeping Tom aus Belgien, das das Festival am Donnerstag im Schauspielhaus mit seinem Stück „Vader“ eröffnet. Darin geht es um die Figur des Vaters als Ernährer, Identifikationsfigur und Autoritätsperson, angesiedelt ist der erste Teil einer Familientrilogie im Seniorenheim.

Zu den Stammgästen gesellen sich aber auch diesmal eine Reihe von Neulingen. Der Flame Jan Martens ist einer von ihnen, seine Produktion „Sweat Baby Sweat“ zeigt am Dienstag übernächster Woche im Ballhaus Schweißtreibendes in einer Paarbeziehung, ganz nach dem Motto „Nicht mit dir und nicht ohne dich“: die Liebe als Kraftakt.

Nachwuchsförderung

Seit ein paar Jahren kümmert sich das Festival auch um die Nachwuchsförderung. Zum vierten Mal ermöglicht das von Stadt, Region und Stiftungen finanzierte Künstlerresidenzprogramm drei jungen ChoreografInnen, jeweils ein Stück mit einem größeren Ensemble zu erarbeiten. Die Uraufführungen finden nun im Rahmen des Festivals statt. Erst rund um dieses Programm, erzählt Winter, sei es in Hannover in den letzten Jahren zu einer wirklichen Verknüpfung der Tanzszene gekommen.

Denn eine Tanzausbildung, die gibt es in der niedersächsischen Landeshauptstadt seit Jahren nicht mehr. Schwierig sei es deshalb, sagt Winter, dort TänzerInnen und ChoreografInnen anzusiedeln. Bestenfalls könne das Festival denn auch nur helfen, freie ChoreografInnen dort zu halten.

Zu ihnen gehört Felix Landerer, dessen Produktionen nun von der Stadt gefördert werden, unter anderem mit einem eigenen, 150 Quadratmeter großen Probenraum auf dem Faust-Gelände. Bis 2006 tanzte Landerer für die Staatsoper Hannover, seit 2011 ist er Hauschoreograf des Scapino Ballett Rotterdam, einer der größten Kompanien der Niederlande.

Zur Jubiläumsausgabe von Tanztheater International steuert Landerer sein Stück „Albert“ bei, das sich auf ein vor fast hundert Jahren durchgeführtes, ethisch fragwürdiges Experiment bezieht: Im „Little-Albert-Experiment“ wurde ein Baby durch unangenehme Klänge beim Zeigen von Gegenständen konditioniert und entwickelte daraufhin Angst.

Für Landerer ist die Figur Albert mit ihren bis zur Paranoia gesteigerten Ängsten hingegen „ein Jedermann“. „Wir haben erarbeitet“, erzählt er, „wie weit es gehen kann, wenn man sich nicht um solche Leute kümmert.“ Die Auseinandersetzung mit der Paranoia hat dabei für Landerer auch einen ganz aktuellen gesellschaftspolitischen Bezug: „Wo ist die Verbindung“, fragt er, „zu denjenigen, die aktuell in Deutschland gegen Zuwanderer und Ausländer auf die Straße gehen?“

Do, 3.9., bis So, 13.9., diverse Spielorte in Hannover

Infos und Programm: www.tanztheater-international.de