: Kein Märchen
Schlüsselwerk Das Kino Arsenal zeigt den Film „Tausendschönchen“ der kürzlich verstorbenen Regisseurin Věra Chytilová
von Thomas Groh
Es waren einmal zwei – ja, was? Mädchen? Freundinnen? Prinzessinnen? Wer sind die beiden? Und sind sie überhaupt zwei? Sind sie überhaupt? Und in welchem Realitätsgefüge befinden sie sich? Schwer zu sagen, denn über die Beschaffenheit der Welt ihres Films „Tausendschönchen – kein Märchen“ (aha!) gibt die große Filmemacherin Věra Chytilová herzlich wenig Aufschluss. Weder erzählt sie psychologisch realistisch, noch lässt sich sagen, wie die Räume in diesem Film zueinander stehen: Vom Schwarz-Weiß-Schwimmbadsteg kippt sich’s rasant zu einer bunten Sommerwiese samt Baum der Erkenntnis, von dort aus in ein Schlafzimmer mit Boheme-Appeal.
Dieser Film ist also keine Abbildung von Realität. Er insistiert auf allen nur denkbaren Ebenen der filmischen Poetik darauf, zuvorderst ausschließlich ein Film zu sein – also etwas Gestaltetes, Gefertigtes, Bearbeitetes. Aus gutem Grund zeigt ihn das Kino Arsenal in einer Reihe über Production Design.
Kein Märchen also. Es waren nicht, sondern es sind: Marie und Marie – und anfangs sitzen sie da wie achtlos abgelegte Spielpuppen, bewegen roboterhaft die Arme, quietschen wie ungeölte Mechanik und ergänzen einander die Sätze: Dass sie nichts wirklich können und dass die Welt eine böse, verdorbene sei. Weshalb sie ab jetzt auch böse und verdorben sein wollen. Ein Leben voller Trieb und Gier: Sie kichern, lachen, brechen Regeln des Anstands, lassen sich von älteren Herren aushalten, bringen jüngere um den Verstand, die dann am Telefon säuselnd was von Liebe faseln, necken einander und schlemmen, schlemmen, schlemmen. Und weil man mit Essen nicht spielt, trampeln sie darauf herum, während sie sich – auch das tut man ja nicht – tänzelnd ihrer Kleidung entledigen.
Wie in einer unbekümmerten (und weit weniger sadistischen) weiblichen „Max und Moritz“-Variante ziehen sie durch die künstliche Welt dieses turbulenten Films und lassen – oft buchstäblich – die Fetzen fliegen: Mit einer Schere zerlegen sie kurzerhand sogar das Filmbild selbst und ordnen ihre Welt zum zerstückelten Konfetti-Wuselbild neu an.
Bis sie schließlich, nach einem enthemmten Anschlag auf ein fürstliches Bankett, zur Ordnung gerufen werden und das Tohuwabohu wieder richten sollen. Das tun sie, legen sich in alter Steife in die aufs Neue sortierte fade Welt, behaupten, endlich glücklich zu sein, und werden zur Belohnung für diese Einsicht vom herabstürzenden Kronleuchter erschlagen. Kein Märchen – keine staatstragende Moral von der Geschicht’.
Was gehört sich, was nicht? Ein Film über den ständigen Regelverstoß – auch und gerade auf filmischer Ebene: Die antiillusionistische Ästhetik, die sich gegenüber der als ideologische Verblendung identifizierten „Nahtlosigkeit“ des hegemonialen Hollywoodkinos positioniert, eint alle filmischen Modernisierungsbewegungen, die sich in den 60ern in zahlreichen Ländern formieren. Neben der französischen Nouvelle Vague und dem Neuen Deutschen Film gehört dazu insbesondere auch die tschechoslowakische Neue Welle. In den frühen 60ern an der Prager Filmhochschule Famu im Zuge des politischen Tauwetters entstanden, verlieh diese dem sozialistischen Staatskino einen neuen, ungewohnt kritischen Tonfall.
Mit dem 1966 am Vorabend des Prager Frühlings gedrehten „Tausendschönchen“ hat die im vergangenen Jahr verstorbene Věra Chytilová ein bis heute faszinierendes, enorm kurzweiliges Schlüsselwerk dieses Filmzusammenhangs geschaffen. Anders als viele ihrer männlichen Kollegen, insbesondere auch in den westlichen Neuen Filmwellen, geht sie allerdings nicht mit heiligem Ernst an die Sache. Das Aufbrechen der filmischen Regeln und Normen begreift sie als Einladung zum Erkunden der Gestaltungsmöglichkeiten: Im fröhlichen Galopp geht es hier von Stummfilm-Slapstick, über farbenschlierenden Experimentalfilm bis zum Montagekino und Frühformen heutiger Videoclip-Ästhetik. In gewisser Hinsicht stellt Chytilovás verspieltes, aber nie infantiles Kino damit einen Brückenschlag im tschechischen Kino dar: von den kunstvollen, surrealen Animationen eines Jan Švankmajer zu den einfallsreich handgebastelten Unterhaltungsfilmen von Oldřich Lipský oder Václav Vorlíček. Allen liegt ein sehr freies, anarchisches Verständnis von Kino zugrunde.
In Vor- und Abspann eingefasst ist „Tausendschönchen” übrigens von Aufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg. Im Abspann findet sich eine Widmung für all jene, die sich lediglich über Petitessen empören. Was ist schon der Regelverstoß aufbegehrender junger Frauen im Vergleich zur realen Zerstörung der von Männern geführten Kriege? Zwei Jahre später rollten sowjetische Panzer über den Wenzelsplatz. Der kurze Prager Frühling war Geschichte. „Tausendschönchen“ wurde verboten. Von Männern. Kein Märchen, wie gesagt.
„Tausendschönchen“: 21. und 29. 8., 20 Uhr, Kino Arsenal
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen