: Gezeichnete Traumbilder
Kulturkirche In Lübecks Petrikirche hat der Künstler Volker Tiemann den Altar durchgestrichen und dann noch schwebende Schuhe hineingestellt –so als sei Christus grad gen Himmel entschwunden
Nicht nur Lübecks Touristen dürfen sich derzeit wundern: Sie kommen in eine im Kern aus dem 12. Jahrhundert stammende große Kirche, und der Altar ist durchgestrichen. Aber kann man Realität „durchstreichen“? Man kann: Die beiden großen, sich kreuzenden Stangen aus Holz sind eine wirksame Markierung. So, als wäre die Realität ein bereits fertiges Foto, das es auszuwählen oder abzulehnen gelte. Wobei die rote Farbe darauf hindeutet, dass es hier eher ein Aus- als ein Ankreuzen ist.
Aber ist so etwas am Altartisch einer Kirche – dem Allerheiligsten, das sie hat – überhaupt erlaubt? Solche Fragen sind bei Kunst eher ungewöhnlich, stellen sich aber, wenn die mit Wahrnehmungsgrenzen spielende Kunst von Volker Tiemann statt in einen „White Cube“ – etwa Museum oder Galerie – nun in eine Kirche kommt.
Allerdings wird St. Petri in Lübeck, der Ort der aktuellen Ausstellung, längst nicht mehr für Gottesdienste genutzt. Das Gebäude mit seiner seltenen fünfschiffigen Form wurde nach den schweren Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs erst 1987 äußerlich wieder hergestellt. Das Innere aber ließ man weitestgehend leer und strich es weiß.
Seither dient der einst sakrale Ort als Kulturkirche. Anfangs wurden die dortigen Ausstellungen sogar vom kunstaffinen Politiker Björn Engholm kuratiert. Seit sieben Jahren nun organisiert der Plöner Künstler und Wismarer Professor Valentin Rothmaler die internationalen Kunstinterventionen in Lübecks St. Petri-Kirche.
Entgegen der Schwerkraft
Zurzeit werden dort Skulpturen gezeigt, gestaltet etwa als schwerelos flatternde Bänder oder als Tisch mit umfallender Vase darauf: Der 1963 in Kiel geborene Volker Tiemann liebt es, Skulpturen zu bauen, die der Schwerkraft zu widersprechen scheinen. Seine Holzobjekte und Installationen sehen wie gezeichnete Traumbilder oder bearbeitete Fotos aus. Nach vorne gekippte leere Schuhe auf einer blauen Matte tragen zum Beispiel den Titel: „Der Künstler beim Sprung in die Leere“.
Dieses geschnitzte Relikt einer gegangenen Person ist nicht nur geistvoller Witz. Es lässt sich auch deuten als Hommage an eine Aktion des französischen Blau-Malers und Konzeptkünstlers Yves Klein und dessen berühmtes, ihn schwebend zeigendes Foto von 1960. In der Apsis-Nische der Lübecker Petrikirche ergibt sich ein interessanter Bezug zur Himmelfahrt Christi oder den irdischen Fußspuren anderer angeblich in den Himmel aufgefahrener Götter.
In der Tat beziehen sich die handwerklich präzise ausgeführten Objekte von Volker Tiemann mit ihren Paradoxien meistens auf die Kunstgeschichte sowie auf philosophische Problemstellungen. „Mein linker Arm beim Frühstück Nr. 2“ etwa spiegelt derart exakt die Perspektive des Künstlers, dass der Arm einfach da endet, wo ihn auch der Ausstellungsbesucher auf den ersten Blick nicht mehr sieht.
In der Berührung des Fingers und der Kaffeekanne fungiert die Skulptur zudem ganz nebenbei als ein Verweis auf die berühmte „Erschaffung des Adam“ von Michelangelo an der Decke der Sixtinischen Kapelle im Vatikan.
Und wenn eine Mineralwasserkiste mit Hilfe eines aus der barocken Kunst zitierten heiligen Lichtstrahls zu einer Kiste Wein wird, titelt der Künstler: „Cy Twombly erklärt Andy Warhol die Gesetzte der Metaphysik“.
Einige Grundkenntnisse in Kunst- und Kirchengeschichte sind also bei den Objekten Volker Tiemanns schon von Nutzen. Und ganz kompliziert wird es, nimmt man den Titel der Ausstellung ernst: „Wo im Ganzen steckt das Detail?“ paraphrasiert ja nicht nur den Volksmund, der den Teufel im Detail zu finden meint. Der Titel verweist auch auf den Hamburger Kulturtheoretiker Aby Warburg, der den lieben Gott im Detail zu finden glaubte. Zudem geht es um Kategorien der Wahrnehmung ganz allgemein. Hajo Schiff
„Wo im Ganzen steckt das Detail?“: bis zum 30.8., St. Petri Kirche, Petrikirchhof, Lübeck. Gespräch zur Ausstellung mit Volker Tiemann und Kurator Valentin Rothmaler: 27.8., 19 Uhr
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