bücher für randgruppen : Neue Volksmusik für den Weltuntergang: Andreas Diesel und Dieter Gerten beleuchten den Neofolk-Underground
„Lechts und rinks kann man nicht velwechsern. Werch ein Illtum!“ (Ernst Jandl)
In Julien Temples „The Great Rock ’n’ Roll Swindle“ stakst der Sex-Pistols-Gitarrist Sid Vicious Ende der Siebzigerjahre über die Boulevards von Paris. Mit einem Hakenkreuz auf dem T-Shirt. Doch Vicious war nicht etwa ein Neonazi. Er war Punk. Die Linke war vom Symbol auf seiner Brust genauso irritiert wie der Bürger, der mit den „alten Geschichten“ endlich in Ruhe gelassen werden wollte. Genau das war die Absicht. Auch der Linke sollte sich im Unverständnis als zukünftiger Spießer entlarven. Zeitgleich zum Punk entstand die Industrialszene mit Bands wie Throbbing Gristle, die mit den tabuisierten Symbolen von Faschismus und Diktatur spielten und dabei Fragen nach den Zusammenhängen von Gewalt, Sexualität, Ästhetik und Macht stellten. Im Laufe der Jahre verschwammen allmählich die Codes der Szenen und Subkulturen: Heute kann sich unter einer grünen Irokesenfrisur oder einer Militäruniform alles von extrem links bis extrem rechts verbergen.
Gleichzeitig differenzierten sich die aus dem Industrial entstandenen Szenen. Ein Teil formierte sich im Neofolk, ein Begriff, der in den Neunzigerjahren entstand. Soeben ist mit „Looking for Europe“ ein umfangreiches, üppig mit Bildmaterial versehenes Nachschlagewerk zum Thema erschienen. Es stellt die Bands vor und stellt Fragen nach ihrem Selbstverständnis. Die Autoren Andreas Diesel und Dieter Gerten versuchen, die Vielfalt einer relativ kleinen, geschlossenen Musikszene zu sortieren und einen Blick ins Dunkel dieses musikalischen Undergrounds zu werfen.
Ein unendlicher Kosmos tut sich da auf. Denn schon nachdem sich die Schockwirkung der entliehenen Symbole Anfang der Achtzigerjahre entladen hatte, wurden sie mehr und mehr zum Markenzeichen und zu identitätsstiftender Dekoration. Klar, dass immer noch und immer wieder einige beim Anblick von Runen und Keltenkreuzen die Neofolkszene reflexartig als „rechts“ oder „nationalistisch“ verorten. Doch scheint das Studium dieser Sammlung von Bandporträts, Interviews und Dokumenten insgesamt eher auf eine gewisse Ortlosigkeit der Szene zu verweisen. Und nicht selten auch auf ästhetische Irrelevanz. Da findet sich vom erbarmungslosen Industriekrach über eigensinnige Esoterik bis hin zur weinerlichen Naturlyrik alles, was sich denken lässt.
Das Spektrum der Beteiligten – so die Autoren im ständigen Bemühen um Aufklärung und vorurteilslose Beschäftigung mit der Materie – reicht vom „rechten Anarchisten“ über den „schwulen Fetisch“ bis zum „linken Uniformierten“. Über allem schwebt aber eine gewisse Romantik und beschwört einen spirituellen Weg jenseits von Kapitalismus und Konsumgesellschaft. Doch die Fragen, die seinerzeit Throbbing Gristle stellten, scheinen in dieser Dringlichkeit, Präzision und Offenheit nicht mehr gestellt werden zu können, und neue Fragen scheint es nicht zu geben. Stattdessen wabern Visionen vom Untergang des Abendlands ins Bild, oder es wird „zeitlose Schönheit“ beschworen. Daran muss man glauben – oder auch nicht. Einer der frühen Helden des Industrial, Boyd Rice, gibt heute sozialdarwinistische Phrasen von sich, posiert todernst in albernen Uniformen und träumt von Atlantis. Alles nur Show, nur Witz? Im Gegensatz zu seinen Frühwerken wirkt das eher verwirrt als originell.
Die Ästhetik des Faschismus, der Mief des Totalitarismus wird zur identitätsstiftenden Garderobe für … ja, wofür eigentlich? Grenzen verschwimmen, alles wird zu Brei. Da ist das Interview mit dem Kulturjournalisten Martin Büsser, der anhand der Band Death in June aufzeigt, wie und wann lechts zu rinks wird und warum der Holocaust nicht zur „Gothic Novel“ taugt, schon eine echte Offenbarung. WOLFGANG MÜLLER
Andreas Diesel, Dieter Gerten: „Looking for Europe. Neofolk und Hintergründe“. Auerbach Tonträger, 2005, 528 Seiten, 24,95 Euro