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„Ihr stinkt!“

LIBANON Die Müllkrise führt zu heftigen Auseinandersetzungen in Beirut. Demonstranten fordern den Sturz der Regierung

Aus Beirut JULIANE METZKER

Die Szenen, die sich am Samstagabend in der libanesischen Hauptstadt Beirut abgespielt haben, erinnern fast an den Beginn der Aufstände in der arabischen Welt vor vier Jahren. Tausende Libanesen versammelten sich vor dem Regierungssitz des libanesischen Premierministers und riefen in Sprechchören „Das Volk will den Sturz des Regimes“ und „Revolution, Revolution“.

Der Protest organisierte sich über Facebook. Ursprünglich forderten die Demonstranten lediglich eine Lösung für die anhaltende Müllkrise. Denn seit die für Beirut und Umgebung zuständige Mülldeponie Ende Juli geschlossen wurde, stapeln sich die Abfallberge in den Straßen und auf provisorischen Müllablageplätzen.

Dafür machen die Libanesen ihre Regierung verantwortlich, die ihres Erachtens zu wenig tut, um der Krise eine Ende zu setzen. Daher bestehen die Demonstranten auch auf der Absetzung des Umweltministers Mohammad Machnuk. Ministerpräsident Tammam Salam deutete indes politische Konsequenzen an, falls die Kabinettssitzung am Donnerstag ergebnislos bleibe.

Was als friedlicher Protest nahe dem Parlaments- und Regierungsgebäude begann, eskalierte, als libanesische Sicherheitskräfte versuchten, die Demonstranten mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen zurückzudrängen. Amateurvideos zeigen in verwackelten Aufnahmen sogar, wie Blendgranaten in der Menge explodierten. „Die Sicherheitskräfte schossen mit scharfer Munition in die Luft. Wir rannten, doch immer, als wir dachten, wir seien in Sicherheit, explodierte neben uns eine Tränengasgranate. Ich konnte kaum noch atmen“, erzählt die 25-jährige Jessica, die mit Freunden an der Demonstration teilnahm.

Einige Demonstranten warfen mit Stöcken, Feuerwerkskörpern und Wasserflaschen nach den Sicherheitskräften. Die Auseinandersetzung hielt bis in die Nacht an. Die Bilanz: Die libanesische Tageszeitung Daily Star meldete 75 Verletzte aufseiten der Demonstranten und 35 verletzte Sicherheitskräfte. Letzteres wird jedoch in den libanesischen Medien als starke Übertreibung abgetan. Die Proteste waren die heftigsten seit dem Beginn der Müllkrise.

Demonstranten errichten auf dem Märtyrerplatz eine Zeltstadt

Angesichts der Eskalation des Protests wird deutlich, dass die aktuelle Müllkrise nur der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte. Seit Jahren wächst der Unmut unter den Libanesen, die die Willkür und Machtspiele ihrer Politiker kritisieren. So verlängerte das Parlament bereits zweimal sein Mandat, ohne öffentliche Wahlen abzuhalten. Außerdem konnten sich die Regierungsparteien und die Opposition seit über einem Jahr nicht auf einen neuen Präsidenten einigen.

Die Organisatoren der Kampagne „Ihr stinkt“ – eine Botschaft an die libanesischen Politiker – die als Erste zum Protest am Wochenende aufriefen, fordern eine Neuwahl des Parlaments und die Absetzung von Premierminister Tammam Salam. Mehr und mehr Politiker stellen sich nun auf die Seite der Demonstranten.

Der Vorsitzende der progressiv-sozialistischen Partei Walid Dschumblatt postete auf Twitter: „Da die meisten Parteien und ihre Vorsitzende moralisch verwerfliche Interessen verfolgen, war der Protest der jungen Menschen in Downtown Beirut legal und richtig.“ Die Polizeigewalt verurteilte er aufs Schärfste. Doch die Organisatoren des Protests lehnen jegliche Unterstützungen der Bewegung aus Politikerkreisen ab und rufen zu weiteren Demonstrationen auf. Noch in der Nacht zum Sonntag errichteten die Demonstranten auf dem Märtyrerplatz in Beiruts Innenstadt eine Zeltstadt. Über soziale Medien stellten sie klar: Man wolle nicht von der Stelle weichen, ehe die Regierung auf ihre Forderungen eingegangen sei.

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