Flüchtlinge

Täglich kommen Hunderte Flüchtlinge auf der Insel Leros an. Doch es gibt keine Infrastruktur. Hilfe bieten Initiativen an – und Touristen

Matina Katsiveli (M.) im Gespräch mit Flüchtlingen Foto: Lefteris Pitarakis/ap

Plötzlich ist man mittendrin

Was ich hier erlebe, hielt ich nicht für möglich, sagt René Frotscher über die Lage auf der Insel Leros. Er und seine Freundin schmieren Stullen, organisieren Wasser. Eigentlich wollten sie Urlaub machen

Von der Insel LerosTheodora Mavropoulos

Müde sitzen die vier in einem Café des Hafenstädtchens Lakki der kleinen Insel Leros, die vor der türkischen Küste liegt. Lange Partynacht? „Nein.“ René Frotscher lächelt leise. Dass die kleine Gesellschaft am Morgen schon so erschöpft wirkt, hat einen anderen Grund. „Eigentlich wollten wir hier Urlaub machen“, erzählt der 35-Jährige. Doch vor drei Tagen haben er, seine Freundin und ein weiteres Paar, das sie hier getroffen haben und nun mit am Tisch sitzt, begonnen, den Flüchtlingen zu helfen. Hunderte erreichen täglich die Insel. Sie kommen vor allem aus Syrien, und die Verwaltung der Insel ist vollkommen überfordert.

Frotscher lässt seinen Blick über die breite Straße schweifen, die zum Hafen führt. In einer halben Stunde wird hier das Passagierschiff „El Venizelos“ aus Kos einlaufen. Das Schiff, eigentlich eine Fähre, hat auf der Nachbarinsel Kos ein paar Tage lang als vorläufige Unterkunft und Aufnahmezentrum für 1.308 syrische Flüchtlinge gedient. Nun aber hat die „El Venizelos“ von Kos abgelegt, um auf anderen Inseln weitere Flüchtlinge aufzunehmen, die sie nach Athen bringt – insgesamt 2.500 syrische Flüchtlinge.

Die vier Touristen machen sich auf den Weg zur Anlegestelle des Hafens, wo sie Matina Katsiveli treffen wollen. Die 60-Jährige ist die Gründerin der Solidaritätsinitiative Leros. Auf dem Weg erzählt René Frotscher, dass er und seine Freundin vor gut einer Woche aus Berlin angereist sind. Den Flug nach Kos hatten sie bereits seit längerer Zeit gebucht. Klar, über die Flüchtlinge habe man sicher etwas gehört, räumt Frotscher ein. Aber die Flüge waren günstig.

Ihr Budget war knapp berechnet, sie wollten campen. Doch kurz nach der Ankunft erreichten sie Anrufe aus Deutschland. „Wir wurden gefragt, ob es uns gut geht, und wussten zuerst nicht viel damit anzufangen“, erzählt Frotscher. Nach einem Blick ins Internet war ihnen klar, dass die Situation auf Kos gerade eskalierte, dass es Tumulte gab zwischen Flüchtlingen und der Polizei. „So haben wir das Thema Flüchtlinge erst richtig realisiert.“

Frotscher zeigt auf die Grünstreifen der Straßen, wo blaue Zelte stehen. Davor sitzen Familien, viele mit kleinen Kindern. Eine Frau mit Kopftuch hockt auf einer Decke und wiegt ihr Kind in den Armen. Sie komme aus Syrien, erzählt sie. Ja, sie haben die Zelte selbst gekauft. Nein, Unterstützung haben sie nicht bekommen. Einige von ihnen schlafen hier unter freiem Himmel auf Pappen. Ein Flüchtlingscamp wurde auf dem Gelände des örtlichen Krankenhauses errichtet, wo ihnen ein leeres Gebäude zur Verfügung steht. Doch auch das sei längst überfüllt. Auch dort kampieren die Flüchtlinge mittlerweile im Freien.

Die Insel mit ihren 74 Quadratkilometern hat etwa 8.000 Einwohner. Es gebe keine staatliche Organisation, sagt René Frotscher im Weiterlaufen. Immer wieder seien sie gefragt worden, woher man Pappen zum Schlafen bekommen könne. Deswegen haben sie sich mit Matina Katsiveli von der Solidaritätsinitiative Leros in Verbindung gesetzt. „Denn wir waren entsetzt, was wir hier zu sehen bekamen“, erzählt Frotscher.

Je mehr er ins Erzählen kommt, desto weniger kann Frotscher seine Wut unterdrücken. Vor knapp einer Woche sind sie hier auf Leros angekommen. Das Paar mietete sich einen Motorroller, fuhr über die Insel und kam an der Polizeistation in Agia Marina vorbei. „Da saßen zahlreiche Menschen eingesperrt auf engstem Raum in der Sonne ohne Wasser und Essen.“

„Wir waren entsetzt, was wir hier zu sehen bekamen.“

René Frotscher

Dort werden die Flüchtlinge nach ihrer Ankunft so lange festgehalten, bis sie registriert sind. Wie lange das dauert, hängt davon ab, wie viele Flüchtlinge täglich ankommen. Momentan arbeiten dort 20 Polizisten der Wasserpolizei und 12 Polizisten auf dem Polizeirevier – zu wenig. Frotscher und seine Freundin versuchten spontan, den Flüchtlingen wenigstens Wasser zu bringen. Sie fragten einen der Polizisten, was sie den Flüchtlingen noch bringen könnten. „Daraufhin gab ein Polizist einen ziemlich blöden Kommentar ab. Die Flüchtlinge hätten mehr als er, da sollen wir uns keine Sorgen machen“, erzählt Frotscher.

Doch die anderen Polizisten seien freundlich gewesen. Sie geben alles, seien mit der Situation aber völlig überfordert und mit den Nerven am Ende, hat Frotscher beobachtet.

Sie bekommen keinerlei staatliche Unterstützung. Nicht einmal die Wasserversorgung der Flüchtlinge sei gewährleistet. Frotscher schüttelt immer wieder den Kopf, als er das erzählt. „Wir sind vorgestern wieder an der Polizeistation vorbeigekommen und der Polizeidirektor hat uns regelrecht angefleht, Wasser zu bringen“, berichtet er. „Was ich hier gerade erlebe, ist weitab von dem, was ich im reichen Europa für möglich hielt.“

Die vier haben inzwischen den Hafen erreicht. Die „El Venizelos“ liegt bereits am Kai. Zahlreiche Flüchtlinge drängen sich vor einem Eisentor mit ihren Handtaschen, Rucksäcken, manche nur mit einer Plastiktüte, und warten darauf, auf das Schiff gelassen zu werden. Endlich öffnet jemand das Tor und die Menschen strömen auf den Eingang der „El Venizelos“ zu.

Matina Katsiveli steht inmitten der Menge und spricht mit einigen PolizistInnen, um herauszubekommen, wie hoch die Zahl der Neuankömmlinge ist.

Katsiveli hat die Solidaritäts­ini­tiative Leros bereits gegründet, als der Jugoslawienkrieg begann. Damals nahm sie Kontakt mit den ÄrztInnen ohne Grenzen auf und brachte Medikamente in die Kriegsgebiete. „Ich habe damals gesehen, wie es Menschen geht, die eine Arbeit, ein Haus, eine Familie hatten und plötzlich vor dem Nichts stehen“, erzählt Katsiveli.

Ein Flüchtling klettert über den Zaun des Krankenhauses auf der Insel Leros, dort ist ein Flüchtlingslager eingerichtet Foto: Lefteris Pitarakis/ap

Auf Leros begann die Hilfe dann im Jahr 2002, als hier die ersten Flüchtlinge aus dem Irak eintrafen. Einige EinwohnerInnen beschlossen damals, den Flüchtlingen zu helfen. „Es gab hier in Griechenland nie eine direkte Hilfe seitens der Politik – bis heute nicht“, kritisiert Matina Katsiveli. Es habe hier nie eine Struktur für Flüchtlingshilfe gegeben. Und das bekommen nun alle bitter zu spüren. Die freiwilligen HelferInnen schaffen es gerade mal, für das Nötigste zu sorgen – Wasser, Nahrung und ein bisschen Kleidung. „Und das nicht immer.“ Matina Katsiveli seufzt.

Seit sie im Jahr 2012 eine Homepage mit Artikeln und Fotos eingerichtet haben, werden sie in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen. Das ist wichtig, denn die Initiative lebt von Spendengeldern. Über das Internet fanden auch die vier Urlauber Kontakt zu Matina Katsiveli. Sie telefonieren, sie treffen sich, sie beraten. René Frotscher und Anna Unterberger haben daraufhin einen Spendenaufruf an Freunde und Familie gestartet. Fast 2.000 Euro sind so binnen 24 Stunden zusammengekommen. „Wir haben daraufhin für etwa 300 Euro Obst und Gemüse gekauft, 700 Sandwiches geschmiert und über 400 Liter Wasser verteilt“, berichtet Frotscher.

Michalis Kollias, der parteilose Bürgermeister von Leros, ist ebenfalls zum Hafen gekommen. 2.000 Flüchtlinge seien heute auf Leros angekommen, sagt er sorgenvoll. Das seien einfach zu viele. Mit der „El Venizelos“ werden 300 von ihnen nach Athen reisen.

Auch in den nächsten Tagen legen weitere Fähren ab. Aber es kommen mehr Flüchtlinge an, als abreisen. Das ist nicht zu bewältigen. „Ich habe die Regierung um mehr Personal und finanzielle Unterstützung gebeten – bisher erfolglos“, seufzt Kollias. „Bis vor ein paar Tagen gab es 5,80 Euro pro Person für Nahrungsmittel. Das wurde jetzt eingestellt, denn die Kapazitäten reichen nicht mehr aus. Es sind zu viele.“ Der Bürgermeister verschwindet im Gedränge.

Die „El Venizelos“ legt ab. Die Flüchtlinge winken an der Reling lange den Zurückbleibenden zu. Auch Matina Katsiveli winkt. Sie hat viele kennengelernt. Wie sie hat auch René Frotscher eine Vorgeschichte als Helfer. Als Ende 2004 der Tsunami zahlreiche Opfer auf Sri Lanka forderte, gründeten er und ein Freund den Verein Sternenzeit e. V. Über diesen Verein wollen sie nun auch in Deutschland Spenden sammeln und an die Solidaritätsinitiative Leros weitergeben. Auch wenn das Paar wieder in Berlin ist, soll die Hilfe weitergehen.

Die Gruppe ist unterdessen bei der Wasserpolizei angekommen. Ein Polizeiauto fährt vor. Vier SyrerInnen steigen aus. Der Polizist ist freundlich, die Sorgen in den Augen der Flüchtlinge sind nur allzu deutlich. Der 28 Jahre alte Ali Ramad erzählt, dass er heute Morgen auf Leros angekommen ist. Der Tänzer sollte in Syrien zum Militärdienst eingezogen werden. Ja, er wisse, dass es weiterhin schwer sei, räumt er ein. „Aber was sollte ich tun? Ich konnte zwischen Krieg und Leben wählen. Natürlich habe ich mich für das Leben entschieden.“

René Frotscher spricht nochmal mit Matina Katsiveli. Demokratie sei nicht nur ein Geschenk, sagt er dann. Sie ist auch eine Pflicht. „Und das zeigt sich immer deutlicher. Unserer aller Pflicht ist es, nun mit diesen Menschen, die flüchten müssen, umzugehen.“

Am Donnerstag läuft die „El Venizelos“ mit den 2.500 syrischen Flüchtlingen in Piräus ein. Viele von ihnen wollen weiter in den wohlhabenderen Norden der EU. Ganz oben auf der Liste stehen Schweden und Deutschland.

Mitarbeit Raphael Kominis