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Archiv-Artikel

„In Deutschland wird die Gewalt zunehmen“

Eine aggressive Jugendkultur wie in Frankreich existiert hierzulande noch nicht – aber: Die sozialen Spannungen nehmen zu. Jugendliche mit ostdeutschem, muslimischen oder Spätaussiedler-Hintergrund sind die Problemgruppen

taz: Herr Simon, in Frankreichs Metropolen brennen die Vorstädte. Sind solche Ausschreitungen auch in Deutschland möglich?

Titus Simon: Das kann man nicht sicher sagen. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Lebensverhältnisse von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den nächsten Jahren auch hier verschlechtern werden. In Deutschland haben Unruhen ethnischer Jugendgruppen noch keine Tradition. Bislang ist es so gewesen, dass nichtdeutsche Jugendliche Konflikte meist mit anderen ethnischen Minderheiten ausgetragen haben.

In Berliner Problembezirken wie Kreuzberg und Neukölln gibt es auch eine hohe Arbeitslosigkeit bei Migrantenkindern. Sind dort Unruhen ausgeschlossen?

Obwohl es in Frankreich auch ein ethnischer Konflikt ist, haben die Jugendlichen dort einen französischen Pass. Das ist ein ganz anderer rechtlicher Status im Vergleich zur deutschen Situation. Es handelt sich um einen Aufstand verarmter Franzosen mit anderem ethnischen Hintergrund.

In Deutschland haben wir eine nichtdeutsche Jugendkultur, die zwar teilweise auch militant ist, aber in kleine Cliquen zerfällt. Den starken Zusammenhalt für flächendeckende Revolten sehe ich nicht. Allerdings gibt es klare Indizien dafür, dass sich die ethnischen Konflikte auch in Deutschland verschärfen werden. Hartz IV hat ausländische Jugendliche weiter benachteiligt. Und im Zuge der EU-Erweiterung werden zusätzlich sehr gut ausgebildete Bewerber auf den Arbeitsmarkt drängen.

Am 1. Mai brennen in Berlin-Kreuzberg schon jetzt jedes Jahr Autos. Ist das ein Vorspiel zu Szenen wie in Frankreich?

Nein, der Protest in Kreuzberg ist stark ritualisiert und hat eher Eventcharakter. Bisher haben die Ausschreitungen sich immer auf dieses Datum beschränkt. Eine harte Reaktion der Polizei könnte beispielsweise zu einer Eskalation führen. Ich glaube aber nicht, dass solche Ausschreitungen über einen Kiez-Kontext hinausgehen. Wir haben hier keine jugendliche Protestkultur wie in Frankreich.

Erwarten Sie, dass die Konflikte künftig zunehmen?

Ja, durchaus. Eine erhöhte Gewaltbereitschaft ist vor allem von sozial benachteiligten Jugendlichen zu erwarten: Das sind junge Ostdeutsche, Kinder von Spätaussiedlern und muslimische Jugendliche. Diese drei Gruppen sehen keine Chancen für sich.

Ist denn der Rechtsextremismus ostdeutscher Jugendlicher auch eine Form des Jugendprotests?

Natürlich hat der Rechtsextremismus auch soziale Gründe, aber es ist trotzdem etwas völlig anderes als das, was wir gerade in Frankreich sehen. Ich glaube nicht, dass es in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt solche Aufstände geben wird. Dass es da ein großes Gewaltpotenzial gibt, ist klar. Aber der entscheidende Unterschied ist, dass im Osten rechte Jugendkultur mit einer rassistischen Komponente durchsetzt ist, die mit anderen Formen des Jugendprotests nichts gemein hat.

Auch wenn nicht jede Nacht Autos brennen, gibt es in diesen Gebieten doch eine alltägliche Gewalt, gegen Fremde und Schwache …

Das ist richtig. Es gibt Soziologen, die von No-go-Areas in der ostdeutschen Provinz sprechen. Das halte ich zwar für zu weit führend, aber es gibt ostdeutsche Kleinstädte, da sollte man sich am Marktplatz nicht nach 22 Uhr aufhalten, wenn man nicht zu einer von den Jugendlichen akzeptierten Gruppe gehört.

Lässt sich Gewaltbereitschaft denn immer mit Armut erklären?

Armut allein führt nicht automatisch zu Gewalt und Rassismus. Es kommt immer darauf an, wie verschiedene Kulturen mit sozialen Unterschieden umgehen. Etwa in Spanien gab es in den 80er-Jahren eine Jugendarbeitslosigkeit von 60 Prozent. In dieser Zeit gab es dort aber weder rassistisch motivierte Krawalle noch andere Konflikte.

Wie kann man die Konflikte lösen?

Ich sehe in Frankreich im Moment nur die Chance, dass populäre Vertreter der ethnischen Gruppen als Vermittler auftreten. Das könnte kurzfristig helfen. Langfristig bin ein bisschen ratlos, weil die sozialen Konflikte in den europäischen Gesellschaften noch zunehmen werden. Der zentrale Faktor ist die Arbeitslosigkeit. Meine These ist, dass die Krise der Arbeitsgesellschaft noch zunimmt. Für schlecht ausgebildete Jugendliche wird es damit immer schwerer, einen Job zu finden. Deshalb sehe ich eher schwarz.

INTERVIEW: JAN PFAFF