piwik no script img

La Esperanto-Urbo

KUNSTSPRACHE Herzberg im Südharz lockt Touristen mit einer sehr speziellen Sprachenvorliebe

Wer sich auf der Schnellstraße Herzberg nähert, der sieht von Weitem eine grüne Fahne im Wind flattern. Darunter ein helles Denkmal mit einem Kopf, der an Lenin erinnert. Sollte hier am Südrand des Harzes etwa eine bisher unbekannte Splittergruppe die Macht übernommen haben, die die Ideen des islamischen Sozialismus von ­Muammar al-Gaddafi mit denen des sowjetischen Revolutionsführers gekreuzt hat?

Noch merkwürdiger wird es, wenn man sich zur Klärung dieser Frage in den Ort begibt und dabei auf Wegweiser stößt, die die Richtung zum Urbodomo oder zum Stacidomo anzeigen. Im Urbodomo (Rathaus) regiert Bürgermeister Lutz Peters von der CDU. Er freut sich über Touristen aus aller Welt, die am Stacidomo (Bahnhof) ankommen, um seine 14.000 Einwohner zählende niedersächsische Stadt wegen des Denkmals, der Fahne und der damit verbundenen Idee zu besuchen – aber nicht der von Gaddafi und Lenin, sondern einer anderen Splittergruppe: Herzberg ist die deutsche Hochburg der Esperantisten.

Esperanto: eine Kunstsprache, die der Warschauer Augenarzt Ludwik Zamenhof – das Denkmal zeigt seine Büste – Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte, um Grenzen zu überwinden. Sie wird so ausgesprochen, wie sie geschrieben steht, hat einen Artikel, alles wird klein geschrieben, eine Grammatik ohne Ausnahmen.

Eine leicht zu lernende Sprache, die allerdings ihre Faszination verloren zu haben scheint. In Bremen wurde die 1906 gegründete Gruppe vor zwei Jahren wegen Überalterung geschlossen und auch der Deutsche Esperanto-Bund hat nur noch rund 1.000 Mitglieder. „An Universitäten finden kaum Lehrveranstaltungen statt. An den Schulen sieht es nur wenig besser aus“, räumt Peter Zilvar ein, Leiter des Deutschen Esperanto-Zentrums in Herzberg.

Herzberg ist laut Zilvar der weltweit einzige Ort, in dem es Straßenschilder auf Esperanto gibt. Auch in manchen Restaurants finden sich Speisekarten auf Deutsch und Esperanto, in einigen Hotels wird Esperanto gesprochen. Gerade war eine große Gruppe von Nepalesen hier, auch Chinesen und Koreaner mit Esperantokenntnissen kommen gezielt nach Herzberg, dazu Esperantisten aus ganz Europa und den USA. 2006 stimmten alle Parteien des Stadtrates dafür, Herzberg den Namen „la Esperanto-urbo“ zu geben – die Esperanto-Stadt. Seitdem können sich hier Esperanto-Lehrer fortbilden, eine große Bibliothek steht bereit.

„Vor acht Jahren hatten wir in Herzberg 60 Schüler, die Esperanto als Wahlpflichtfach in der Schule lernten und sich innerhalb eines Jahres gut auf Esperanto verständigen konnten, zum Beispiel mit Schülern aus der polnischen Partnerstadt. Wegen der Einführung des Turbo-Abis wurde dieses Wahlfach dann in Niedersachsen leider abgeschafft“, bedauert Zilvar. Heute gibt es in Herzberg an zwei Schulen Esperanto-AGs mit einem Dutzend Schülern.

Im Esperanto-Zentrum werden regelmäßig Wochenend-Sprachkurse angeboten. Rund um den mitten in der Stadt gelegenen Juessee (Jues-lago) befindet sich ein Baumlehrpfad, auf dem auf Deutsch und Esperanto mehr als 50 verschiedene Laub- und Nadelbäume vorgestellt werden. Im Heimatmuseum können sich Besucher über die Entwicklung der Kunstsprache informieren.

Das Museum, das bis Ende August eine Sonderausstellung zur deutschen Kolonialgeschichte zeigt, befindet sich in einem 950 Jahre alten Welfenschloss (Kastelo de la Welf-oj), eines der größten Fachwerkschlösser. Von hier hat man einen schönen Blick über die Stadt.

Ansonsten versucht man neben den Harz-Wanderern auch Skater und Radfahrer mit speziellen Routen nach Herzberg und Umgebung zu locken, die Naturfreunde mit dem Nationalpark Harz (Nacia Parko Harz), dem Lonauer Wasserfall (Lonau-akvofalo), der Einhornhöhle (Unukornulo-groto) und der Rhumequelle (rhume-fonto), eine der drei größten Flussquellen Europas.

Beim Abschied hat man vielleicht noch eine weitere Esperanto-Vokabel gelernt, die einem in Herzberg auf vielen Schildern begegnet: Bonvenon – willkommen! Joachim Göres

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen