: Dinge, die die Welt bedeuten
Porzellan In Jever erzählt die Ausstellung „Jeverland in Ton gebrannt“ von den Wechselfällen moderner Tischkultur und von einem Markt für Haushalts- und Küchengeschirr, der in den 60er Jahren noch ein Renner, zehn Jahre später aber schon gesättigt schien
von Bettina Maria Brosowsky
Einen alten Melitta Schnell-Filter Nr. 102 nenne ich mein Eigen. Er ist aus grobem, weiß glasiertem Porzellan und trägt noch den Schriftzug „Deutsches Reichs Patent“. Dieses Schutzrecht wurde der Mindener Firma in den 1930er Jahren erteilt, der Filter bis in den zweiten Weltkrieg hinein in einem Zweigwerk nahe dem tschechischen Karlsbad produziert. Wer will, möge eine Genusskultur des Dritten Reiches an dem Phänomen Filterkaffee exemplifizieren.
So weit geht eine Ausstellung im Schlossmuseum Jever zum Glück nicht. Sie beschäftigt sich mit dem Auf und Ab des seit 1982 „Friesland Porzellan“ heißenden ehemaligen Zweigstandortes von Melitta in Rahling bei Varel. Diese Produktionsstätte wurde 1953 gegründet, ab 1954 begann hier die Nachkriegsfertigung von Porzellanfilter und Papier. Rohstoffvorkommen, etwa geeignete Tone, waren anders als bei den lokalen Ziegeleien kein Standortkriterium, die vorhandene Bahnanbindung schon eher. Denn das Filterpapier wurde im Ballen nach Minden transportiert und dort verarbeitet, auch der Vertrieb blieb in der Firmenzentrale.
In Varel indes ging es rasant voran. Bereits 1958 zählte man 1.000 Mitarbeiter, der Umsatz war gegenüber dem Vorjahr neuerlich gestiegen, um stolze 26,5 Prozent. Der Porzellanfilter nebst passender Kanne, Form 0 genannt, wurde bald Standard in den Haushalten der jungen Bundesrepublik, fünf Millionen Exemplare waren wohl bis 1960 verkauft. Das Set wurde auch Ausgangspunkt für ein Kaffeeservice aus grobem Steingut, die Form 1, dem Zeitgeschmack entsprechend in diversen Pastelltönen glasiert.
Ab 1958 folgte die feinere Variante aus Porzellan, nun in Weiß oder Blau: das Service Minden. Es wurde bis 1974 fast unverändert produziert, auch als Miniatur fürs Kinderzimmer. Filter und Kanne in diversen Größen sind nach wie vor im Programm, heißen nun „Friesland“ und kommen derzeit, neben der klassisch weißen Ausführung, in modisch feuerroter Glasur daher.
Dem Aspekt des Zeitgeschmacks und seinen kulturellen Hintergründen spüren Ausstellung und Katalog nach. Die Jahre nach 1950 entfachten nämlich nicht nur einen kulinarischen Nachholbedarf, sie forderten auch den zivilisatorischen wie ästhetischen Anschluss an die westliche Welt.
Die häusliche Tischkultur erlebte eine neue, klein- bis gutbürgerliche Blüte, etwa durch Wilhelm Wagenfeld. Er legte die sachliche Industrieform der Zwischenkriegsjahre mit modernen Materialien wie Pressglas, Cromargan und Kunststoff für aktuelle Formen der Geselligkeit aus. Standfeste Partygläser, Bowlentopf und Utensilien fürs Knabbergebäck kamen nun auf den Tisch.
Auch Melitta band mit dem freien Grafiker und Industriedesigner Jupp Ernst (1905-1987) einen erfahrenen Gestalter in Produktion und Marketing ein. Er entwarf Geschirrserien mit weltläufigen Namen wie „Paris“, „Zürich“ oder „Ascona“, schlicht weiß oder mit klarem Streifenmuster in satten Farben. Seine Entwürfe folgten dem Dictum der guten Form, sie gehören längst zum kanonisierten Design der frühen Bundesrepublik und haben neben Alltagsgeschirr von Arzberg, Schönwald oder Thomas ihren festen Platz in Museumssammlungen angewandter Kunst.
Aus den Kaffee- und Teeservices wurden komplette Tafelprogramme für das Essen am schön gedeckten Tisch abgeleitet, der eigentliche Sehnsuchtsort des Wirtschaftswunders. Sie ersetzten das traditionelle, als muffig empfundene Goldrandgeschirr.
In den Folgejahrzehnten wurde der Tisch zunehmend bunter, rustikaler und auch alternativer. Und das lange verpönte Ornament hielt wieder Einzug. Mit der 1923 geborenen Lieselotte Kantner wurde bereits 1959 eine Designerin und explizite Dekorgestalterin in Varel fest eingestellt. Unter ihr entstanden auch derbere und gemusterte Serien, gern in Orange oder Gelb mit starkem Farbkontrast im floralen Dekor, die nun nordische Namen erhielten: Oslo, Stockholm oder Kopenhagen. Eine widerstandsfähige Steingutmasse für die Selenglasur wurde eigens entwickelt.
Die weitere Produktdifferenzierung für Fondue und Überbackenes konnte den Absatzrückgang für Haushalts- und Küchengeschirr in den 1970er Jahre nicht aufhalten. Der Bedarf der Bundesdeutschen schien gedeckt, der komplett ausstaffierte Tisch hatte ohnehin als spießige Reminiszenz nun ausgedient. Da half auch eine Werbekampagne mit der Schweizer Schauspielerin Liselotte Pulver nicht, die 1975 versuchte, mit der neuen Serie Jeverland eine regionale Produktkultur zu beschwören.
Zeitgleich nämlich entwarf Luigi Colani ein schwarzes Teegeschirr, eher ein monströses Zeremoniengerät, das sich unter dem Namen „Zen“ geografisch diametral verordnete. Marketingmäßig ungeschickter zumindest als die wohlweißliche Expansion der Firma Melitta in Bereiche der Genussgüter – Kaffee, Getränke, Kekse, gar Zigarren – sowie Haushaltswaren, so Kaffeemaschinen, Folien oder Tiefkühlbeutel. Es folgte 1979 die rechtliche Selbständigkeit und 1991 der Verkauf der Porzellanfabrik.
„Jeverland in Ton gebrannt. Von Melitta zu Friesland Porzellan“: bis 31. Oktober, Schlossmuseum Jever
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