ZEITREISEN Wie ein Spaziergang in einem längst verschollenen Paris: „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ von Patrick Modiano
: Je tiefer man im Vergangenen forscht

Paris, irgendwann, vielleicht nur geträumt Foto: donkeysoho/plainpicture

von Ulrich Rüdenauer

Die Sehnsucht nach dem Schreiben, hat Patrick Modiano in seiner Nobelpreisrede gesagt, sei in ihm entfacht worden durch den Versuch, ein Mysterium aufzuklären – die losen Enden der Vergangenheit zusammenzuführen. „1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze Bevölkerungen verschwunden waren, muss mich, wie andere meines Alters, sensibler für die Themen Erinnerung und Vergessen gemacht haben.“

Schreiben heißt Suchen; man muss sich als Leser von Modianos Literatur in eine andere, schwarz-weiße Zeit zurückversetzen, die immer leicht verschwommen und nostalgisch anmutet. Seine Bücher sind Erinnerungsexerzitien.

In den Zeitreisen, die man mit Patrick Modiano unternimmt, liegt eine Irritiation: Obwohl man seine Romane wie einen Stadtplan lesen kann, den Straßen folgend, auf den Plätzen verweilend, findet man sich in einem verschollenen Paris wieder. Man geht darin umher wie in einem Irrgarten. Es wimmelt in den Büchern des Nobelpreisträgers zudem von Namen, manche tauchen aus dem Früher auf wie ein schwaches Licht aus dem Nebel. Es sind Stimmen von Verschwundenen und Toten. Beim Versuch, deren ­Rätsel zu lösen, verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit, Wahrheit und Fiktion unmerklich. Selbst das reale Paris wird zu einer fremden, mythischen Stadt, der Straßennamen keine rechte Struktur mehr verleihen können. „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ heißt der neueste der unzähligen schmalen Romane Modianos, die seit 1968 erscheinen.

„Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ steht auf einem Zettel, den der kleine Jean Da­ra­gane mit sich trägt, als er – gut fünfzig Jahre ist das her – allein durch sein Quartier streift. Seine Adresse und sein Name sind darauf vermerkt. Lange dauert es, bis der inzwischen zum Schriftsteller gewordene Daragane diesen Erinnerungssplitter an seine Kindheit in sich wiederfinden kann. Die Vergangenheit ist bei Modiano fest verschlossen, so wie alte Bilder und Dokumente in einem Koffer verwahrt sind, für den der Schlüssel abhandengekommen ist. Immer wieder wird ein solcher Koffer im Buch erwähnt; er birgt etwas, das vom Bewusstsein aussortiert, verdrängt, abgespalten wurde.

Wir scheinen uns auf sicherem Terrain zu bewegen – aber nur auf der Oberfläche

Ein überraschender und auch leicht bedrohlicher Anruf ist es, der Daragane zwingt, sich hineinzuwühlen in seine Vergangenheit: Ein gewisser ­Gilles Ottolini ruft den sich in seiner Einsamkeit wohl fühlenden Schriftsteller an und teilt ihm mit, er habe sein Adressbuch gefunden. Ein Treffen wird vereinbart. Ottolini taucht mit seiner jungen Freundin Chantal in einem Café auf, übergibt das Büchlein, insistiert aber darauf, dass Daragane ihm etwas über einen der darin verzeichneten Namen erzählt. Guy Torstel, so der Eintrag im Adressbuch, soll in einen Kriminalfall verwickelt sein, für den sich Ottolini interessiert.

Daragane kann sich nicht an den Mann erinnern. So stöbert er in seinen Erinnerungen, Namen tauchen auf, die er vielleicht nur träumt, die in seinen Romanen eine Rolle spielen oder womöglich doch mit seiner Kindheit zu tun haben. Auch Gilles und Chantal scheinen Wiedergänger von Bekannten aus einem früheren Leben zu sein.

Ins Zentrum der Vergegenwärtigung rückt indes eine gewisse Annie Astrand, bei der der Junge in Kindheitstagen gelebt haben muss – damals eine junge Frau, nur unwesentlich älter als Daragane selbst. Diese Annie verschwand irgendwann spurlos, das Kind zurücklassend, und das erste Buch, das Jean später als Erwachsener verfasst, verfolgt tatsächlich den Zweck, sie wiederzufinden. Es wird gemunkelt, Annie sei im Gefängnis gelandet. Aber diese Vermutung ist ebenso fadenscheinig wie alle anderen, und es ist eine beunruhigende Erfahrung, die der Erzähler macht – und damit auch der Leser: Je tiefer er nämlich nachforscht, in sich und den ihm zugespielten Unterlagen, desto ungenauer und fragwürdiger werden die Erlebnisse, desto traum- und romanhafter erscheint die Vergangenheit.

Es ist ein komplexes Spiel, das Modiano in diesem neuen, an seine besten Bücher heranreichenden Roman mit uns treibt, und ein sehr lustvolles dazu – zu loben ist einmal mehr die Übersetzerkunst von Elisabeth Edl. Auf der Oberfläche scheinen wir uns auf sicherem Terrain zu bewegen.

Aber jeder Blick in die Tiefe, jeder Blick zurück erzeugt ein Unbehagen, das nicht aufgelöst wird. Patrick Modiano schafft eine eindrückliche Stimmung der Verlorenheit, ohne dabei raunend zu sein. Die Verlorenheit entsteht nicht nur aus der Trauer über Verlorenes – sondern aus der Einsicht, dass nichts mehr in eine Ordnung, nichts mehr in Ordnung gebracht werden kann.

Leben bedeute, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren, sagte Modiano einmal.

Patrick Modiano:„Damit du dich im Viertel nicht verirrst“. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, München 2015, 160 S. 18,90 Euro