Avantgarde des Volkstheaters

DAILY SOAP 100 Stücke in 12 Jahren zur Premiere bringen – dafür muss man schon ein besonderes Format erfinden. Constanze Behrends ist solch eine Erfinderin und schreibt, inszeniert und spielt noch dazu

Die Frauenrollen, die sie spielen wollte, musste sie sich selber schreiben Foto: William Minke

von Esther Slevogt

Jetzt hat sie also im Mai diesen Preis bekommen, den Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatikerpreis. Unter den bisherigen Preisträgern der seit 2008 vergebenen Auszeichnung sind so renommierte Kräfte wie Juli Zeh, Iwan Wyrypajew, Rabih Mroué oder Kevin Rittberger. Nun also auch Constanze Behrends, Jahrgang 1981, Theaterleiterin, Schauspielerin und Verfasserin von weit über 100 aufgeführten Theatertexten – ja, richtig gelesen, über 100.

Die meisten dieser Stücke gehören zur längst legendären und von ihr im Alleingang verfassten Berliner Theater-Sitcom-Soap „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ des 2003 von ihr und Oliver Tautorat gegründeten Prime Time Theaters. Dort pfeift man aufs Feuilleton und macht Volkstheater. Und was für welches.

So sind Constanze Behrends, Oliver Tautorat und ihr Prime Time Theater Berliner Institutionen von Format geworden, wie es früher einmal Willy Millowitschs Kölner Volkstheater oder Heidi Kabels Hamburger Ohnsorg Theater waren. Nur viel emanzipierter, intelligenter, anarchistischer. Weil das Volk, für das hier Theater gemacht wird, nicht mehr in der Volkstümlichkeitsecke steht, sondern mit weiterem Horizont ausgestattet ist als die komisch-beschränkten Bildungsbürger und ihr noch komischeres und beschränkteres bürgerliches Bildungstheater.

Und weil das so ist (und das Prime Time Theater darüber hinaus auch noch die ungeheuerliche Absicht hatte, mit Theater Geld zu verdienen), gab es lange keinen Cent staatliche Unterstützung.

Erst 2013, zum 10. Jubiläum ungefähr, fand der damalige Regierende Klaus Wowereit den Weg ins Prime Time Theater, wo man lange so arm und so sexy war wie Wowereits Berlin. Erst seitdem gibt es Unterstützung für den Betrieb mit 22 angestellten Mitarbeitern, ist der existenzielle Druck etwas abgefedert.

Dass das bürgerliche Theater nichts für sie ist, wurde Constanze Behrends schon während ihrer Schauspielausbildung klar, damals, am Anfang des neuen Jahrtausends. Zu sexistisch, zu hohl, zu uninteressant fand sie insgesamt diesen Theaterbetrieb: „Da wollte ich einfach nicht rein. Wozu? Um die dritte von links zu spielen, die dann am Ende auch noch vergewaltigt und zerstückelt wird?“ Lieber selbst ein Theater gründen, wo sie das Theater machen konnte, das sie selbst auch sehen und spielen wollte: echt, lebensnah. Komisch und mit Frauenrollen, die sie auch spielenswert fand.

Aus der Not eine Tugend gemacht

Der billigen Mieten wegen landete die damals 22-Jährige mit ihrem Partner Oliver Tautorat im Bezirk Wedding – der noch als ziemlich uncool galt, damals, als alles Richtung Mitte und Prenzlauer Berg strömte. Dann tat sie, was sie später noch öfter tat: nämlich aus der Not eine Tugend machen. „Mitte ist Schitte. Prenzelberg ist Petting,“ wurde also getextet, „Real Sex is only Wedding“. So nämlich bringt der Titelsong der Theatersoap die Sache auf den Punkt.

Und das auch in der 100. Folge, die ab 7. August gespielt wird. Der ach so coole Prenzlauer Berger wurde in den GWSW-Folgen bei Constanze Behrends zum „Prenzelwichser“ – womit noch auf dem Höhepunkt ihrer Coolness die Hipsterfraktion von Behrends und ihren Prime-Time-Schauspielern ziemlich hellsichtig als neue Spießerkaste enttarnt wurde. Und der von ihnen verkörperte Projekt- und Kunstbegriff als Entfremdungs- und Gentrifizierungsdiskurs thematisiert. Und zwar mit den Mitteln der Satire.

Avantgarde war das Prime Time Theater auch, weil hier (noch vor der Gründung des Ballhaus Naunynstrasse) auch das Leben der Berliner Migranten vorkam, mit Figuren, wie Dönerbudenbesitzer Onkel Achmed, Muttermassiv Hülia und einer ganze Reihe testosterongesteuerter wie handyversessener junger türkischer Kiez­linge, deren Leben, Lieben und Machogehabe hier liebevoll auf die Schippe, aber dabei trotzdem ernst genommen wurde. Genauso wie die Nöte schmächtiger türkischer Ehemänner, denen zwischen Integrationsüberforderung und häuslichem Eheterror gelegentlich die Puste ausgeht.

Am 7. August kommt im Prime Time Theater in der Müllerstraße 163 die 100. Folge von „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ heraus, schlicht „Wedding“ genannt, wieder von Constanze Behrends geschrieben und inszeniert. Dort kommen viele Figuren aus den ersten 100 Folgen noch einmal zusammen und besingen ihre Vergangenheit. Weitere Termine und Programm: primetimetheater.de

Am Anfang waren es billige Perücken und Kulissen aus Pappmaschee. Der Theaterraum im Soldiner Kiez war gerade so groß wie ein Wohnzimmer, etwa dreißig Zuschauer fanden Platz. Nach vier Umzügen sind es inzwischen 240; noch immer sind die Vorstellungen zu 95 Prozent ausverkauft. Statt bemalter Pappe gibt’s jetzt als Bühnenbild schrille Beamer-Projektionen. Aber noch immer werden die ungefähr 20 bis 30 aktiven Figuren des Serienpersonals von maximal 5 Schauspielern gespielt.

Dass sie zu schreiben begann, war auch einer jener Momente, in denen Constanze Behrends aus der Not eine Tugend machte: In ihrem frisch gegründeten Theater wollte sie spielen, hatte aber kein Geld für Lizenzen und Tantieme. Also wurde selbst verfasst. Vorbild waren Fernsehserien wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, die US-Serie „Friends“ oder „Die Simpsons“. Und zwar lange, bevor die HBO-Serien sich als kulturell relevant auch bis in die Dramaturgie-Etagen der Stadttheater herumgesprochen hatten.

Als Constanze Behrends im Frühjahr in Köln die ehemalige Theaterverlegerin Ute Nyssen, die Stifterin des Dramatikerpreises, besuchte, da zückte die erst mal Bücher von Jeff Koons und Andy Warhol, erzählt Behrends nun, in dessen Tradition sie das dramatische Opus Magnum „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ sieht. „ ‚Ha!‘, dachte ich da“, sagt Constanze Behrends und lacht, „endlich hat’s mal jemand gemerkt!“

„Wer aber meint, Ute Nyssen habe den von ihr ins Leben gerufenen Preis unter diesen Vorzeichen in die Sphäre der Comedy, der Problemviertelversteher und der quotenträchtigen Unterschichtsbespaßung ausgelagert, liegt völlig falsch“, sagte der Theaterkritiker und Preisjuror Christopher Schmidt im Mai bei der Kölner Preisverleihung in seiner Laudatio. „Nicht erst seit die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wie übrigens auch die traditionsreichen Münchner Kammerspiele in ein international kuratiertes Kunst-Cluster umgewandelt werden soll, ist das Prime Time Theater das wahre zeitgemäße Berliner Volkstheater.“

Vielleicht wäre es ja wirklich eine interessante Option gewesen, die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz an Constanze Behrends und ihr Ensemble zu vergeben. Statt das Prenzelwichsertum dort zu globalisieren.