piwik no script img

Verboten gut

Exklusion Weil Markus Rehm mit seiner Prothese zu weit springt, werden seine Leistungen anders als im Vorjahr bei den Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften wieder gesondert gewertet

von Jan Schmidbauer

Als Markus Rehm bei den Deutschen Meisterschaften in Ulm aus der Kuhle hüpft, sich den Sand abschüttelt und zur Anzeige blickt, muss er gleich noch mal hinsehen. Er wusste, acht Meter sind drin, wenn es gut läuft. Dafür hatte er trainiert. Vor der Arbeit, nach der Arbeit, am Wochenende. Aber 8,24 Meter? Deutscher Meister im Weitsprung?

Der 26-Jährige mit den eisblauen Augen lächelt, wenn er davon erzählt. Er lächelt sowieso fast immer, wie Animateure im Club-Urlaub, nur nicht so aufdringlich. Sein Titelgewinn im Sommer 2014 war eine Sensation. Rehm wurde bejubelt, bestaunt, saß noch am selben Abend im Sportstudio. Doch andere Athleten waren verärgert. Er habe einen Vorteil, sagten sie. Weil er beim Springen eine Carbonprothese trägt. Dort, wo mal sein rechter Unterschenkel war.

Der Verband änderte nach den Deutschen Meisterschaften das Reglement. Sportler mit Handicap dürfen nur noch in getrennter Wertung an Wettkämpfen Nichtbehinderter teilnehmen. So kann Rehm am Wochenende bei den Deutschen Meisterschaften, die mit dem Weitsprungwettbewerb am Freitag auf dem Hauptmarkt von Nürnberg eröffnet werden, seinen Titel nicht verteidigen, egal wie weit er springt. Er wird trotzdem wieder an den Start gehen.

Die entscheidende Frage wurde indes noch gar nicht geklärt: Ist die Prothese überhaupt ein Vorteil? Keine wissenschaftliche Studie belegt das. Der DLV hatte eine derartige Untersuchung in Aussicht gestellt. „Dass es in diesem Jahr eine Lösung gibt, ist unwahrscheinlich“, sagt Gerhard Janetzky, Inklusionsbeauftragter des DLV. Derzeit prüft der Verband die Anforderungen einer Studie.

Der 10. August 2003 hat Rehms Leben verändert. Er ist 14 und hängt am Motorboot seines Vaters. Auf dem Main bei Würzburg fahren sie Wake­board. Nach einem Sprung muss Rehm die Leine loslassen und stürzt ins Wasser. Als er auftaucht, sieht er ein Boot, das auf ihn zufährt. Der Kapitän bemerkt ihn nicht. Rehm versucht auszuweichen. Doch die Schiffsschraube erfasst seine Beine, zertrümmert sie. Tagelang versuchen die Ärzte, sie zu retten. Den rechten Unterschenkel müssen sie wegen einer Blutvergiftung amputieren.

Rehm war gezwungen, sich mit Prothesen zu beschäftigen. Und er war neugierig, machte ein Praktikum im Sanitätshaus, später die Meisterprüfung. Neben dem Sport arbeitet er nun als Orthopädietechniker im rheinischen Troisdorf, halbtags. Er hat noch einen Termin vor Feierabend, mit Iwan, einem kräftigen Mann mit Arbeiterhänden, seine Prothese sitzt zu locker. Iwan plaudert viel, klagt über den Stau auf der A 3 und erzählt von seinem neuen Hund. Iwan kommt extra wegen Markus Rehm hierher, so wie viele andere seit seinem Sieg in Ulm.

In der Werkstatt bessert Rehm die Prothese seines Patienten aus. Es riecht nach Gips und Klebstoff. Rehm füllt den Schaft des hautfarbenen Kunststoffbeins mit einem Harz, wartet bis das Material ausgehärtet ist, schleift die Oberfläche glatt. Danach bringt er sie zu Iwan. Der steckt seinen Stumpf in die Prothese und grinst. Passt.

Bester mit Standardteil

Rehm muss jetzt nach Leverkusen zum Training. Er ist spät dran, steht mal wieder im Stau. „Wir müssen uns ein bisschen beeilen.“ In der Umkleide wuchtet er seine Tasche auf die Bank, nimmt seine Alltagsprothese ab und montiert das gebogene Stück Carbon an seinen Oberschenkel, über das seit vergangenem Sommer so viel gesprochen wird. Es ist extrem leicht und steinhart.

Rehms Carbonfeder ist ein Standardteil. Jeder kann es kaufen. „Das ist mir auch extrem wichtig“, sagt er. Die besten Weitspringer im Behindertensport springen alle mit dieser Feder. Aber Rehm hat keine Konkurrenz, springt mindestens einen Meter weiter als die anderen Sportler mit Handicap. Welten im Weitsprung, einer Sportart, in der Rekorde oft jahrelang ungebrochen bleiben. So wie der weiteste Sprung bisher: Mike Powell, 8,95 Meter, Tokio 1991. Vielleicht ein Sprung für die Ewigkeit.

Das Experiment

Der Sprung nach vorn: Am 26. Juli 2014 durfte Rehm erstmals bei den Leichtathletik-Meisterschaften der nichtbehinderten Sportler in Ulm teilnehmen. Rehm gewann mit einer Weite von 8,24 Metern vor dem ehemaligen Europameister Christian Reif (8,20 Meter) den Titel und verbesserte seinen eigenen Paralympics-Weltrekord dabei um 29 Zentimeter.

Der Sprung zurück: Am 30. Juli 2014 entschied der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV), dass Rehm trotz Qualifikation nicht an den Leichtathletik-Europameisterschaften 2014 teilnehmen darf. Im November beschloss der DLV, dass Rehm seinen Titel behalten darf, seine Sprünge aber wieder gesondert gewertet werden.

Es ist ein sonniger Nachmittag, trainiert wird draußen. Diskuswerfer, Speerwerfer, Sprinter, überall im Stadion Athleten von Bayer Leverkusen. Auf den Bänken diskutieren drei Jungs über Alufelgen, ein Ghettoblaster spielt Westküsten-HipHop. Rehm trainiert heute nur Sprints. Das Sprinten ist eine gute Ergänzung für das Training. Rehm nimmt aber auch in dieser Disziplin an Wettkämpfen teil. Mit drei anderen Sportlern will er in der 4 x 100-Meter- Staffel paralympisches Gold holen.

Er spurtet mit dem Staffelstab los. Die ersten Schritte sind lang, dann werden sie kürzer und schneller. Mit klackernden Geräuschen krallen sich die Spikes seiner Carbonfeder in die Tartanbahn. Je mehr Tempo er aufnimmt, desto runder ist sein Lauf.

Die Feder funktioniert ähnlich wie ein Fußgelenk. Sie gibt die Energie zurück, die auf sie einwirkt. In der Kurve spurtet er auf den zweiten Läufer zu. Die Übergabe gelingt. Trainiert wird Rehm von Steffi Nerius, einer ehemaligen Weltmeisterin im Speerwurf. Sie ist wie Sportlehrerinnen in der Schule: streng, aber fair, eine Hand immer an der Stoppuhr. Nerius bremst ihn aber auch mal ein, wenn es sein muss. Er braucht das. Rehm ist Perfektionist, nie zufrieden. Er erzählt vom Wettkampf in Dubai Ende Februar. Wieder wurde er Erster, allerdings mit weniger als acht Metern. „Da war ich total am Ausflippen.“ Rehm will noch weiterspringen, obwohl im Behindertensport sowieso keiner an ihn rankommt.

Der Verband wollte ihn vergangenen Sommer bei den Deutschen Meisterschaften dabei haben. Es sollte ein Experiment sein. Die erste Teilnahme eines Sportlers mit Handicap bei einer Meisterschaft der Nichtbehinderten. Dass Rehm gewinnen würde, hatte keiner erwartet. Christian Reif, der Favorit, flog bei jedem Versuch weiter als acht Meter und wurde trotzdem nur Zweiter. Rehms Triumph war eine Sensation. Aber noch am selben Abend ging die Debatte los: Hat er durch die Prothese einen Vorteil? Geht das überhaupt: Inklusion im Profisport?

Die Debatte war von Anfang an aufgeladen. Für die Skeptiker war es auch nicht leicht. Kritik an einem behinderten Sportler: ein Tabubruch. Sebastian Bayer, ein anderer Favorit auf den Meistertitel, beschwerte sich nach dem Wettkampf über Rehm und seine gebogene Carbonfeder: „Ich weiß nur, dass die Prothese gefühlte 15 Zentimeter länger ist als das andere Bein. Mein Sprungbein ist genauso lang wie das andere.“ Es gab einen Shitstorm.

Aufgrund seines großen Erfolges werden Rehms Sprünge bei den Meisterschaften in Nürnberg wieder gesondert gewertet.

Markus Rehm stört jedoch etwas anderes: Er darf noch immer nicht zur WM, nicht zu Olympia. Die Wertung sei zweitrangig. Er will dabei sein, sich messen mit den Besten der Welt. Aber: Die Sonderregelung, nach der er in getrennter Wertung springen darf, gilt nur in Deutschland. Der DLV hat kürzlich einen Antrag an den Weltverband gestellt, die Regelung zu übernehmen. „Wir würden uns freuen, wenn er teilnehmen kann“, sagt Gerhard Janetzky. Er fragt sich aber auch, wie das funktionieren soll. „Würde Rehm dann einem anderen den Startplatz wegnehmen?“

Markus Rehm stört etwas anderes: Er darf noch immer nicht zu Olympia. Er will einfach dabei sein, sich messen, mit den Besten der Welt

Wunsch nach mehr Respekt

Seit seinem Sieg in Ulm hat sich etwas grundsätzlich verändert, sagt Rehm. Alle redeten nur noch über die Prothese, nicht über seine Leistung. „Hätte ich den sechsten oder siebten Platz gemacht, hätten wahrscheinlich alle gesagt: Ein tolles Zeichen für die Inklusion.“ Er wünscht sich mehr Respekt für den Behindertensport. Und er will zeigen, dass man mit einem Handicap viel erreichen kann.

Die Studie, über deren Verwirklichung man beim DLV noch nachdenkt, könnte aufwendig werden, denn die Untersuchung soll für alle Alters- und Leistungsklassen regeln, wie Leistungen von Sportlern mit Behinderung bewertet werden können. „Wir wollen keine Lex Rehm“, sagt Janetzky. 200.000 bis 300.000 Euro könnte die Studie laut Janetzky kosten. Das Geld müsse zum Großteil vom Bund und von Sponsoren kommen, sagt er. Man wolle schließlich eine Frage beantworten, die die ganze Gesellschaft angehe.

Rehm spricht von den Wochen nach seinem Unfall. Die Rehaklinik war weit weg von seinem Elternhaus bei Stuttgart. Er hatte Zeit, haderte, zweifelte. Im Nachhinein war das gut, sagt er. Man könne das nur mit sich selbst ausmachen. „Viele sagen zwei Wochen nach ihrer Amputation, dass sie das schon abgehakt haben.“ Für ihn ist das falscher Stolz. Er hatte doch auch Fragen, die ihm keiner beantworten konnte. „Ich hab gedacht: Kriege ich überhaupt noch eine Freundin? Kann ich jemals wieder Sport machen?“ Unbegründete Sorgen, sagt er heute. Doch manche Menschen zerbrechen an ihren Zweifeln. Rehm will ihnen Mut machen. Seit seinem Meistertitel ist der Terminkalender noch voller. Urlaub hatte er lange nicht mehr. Aber er liebt das, was er jetzt macht. Auch seinen Job. Nach der Sportkarriere will er als Orthopädietechniker arbeiten.

Er erzählt von einem Jungen, der neulich bei ihm war. Rehm baute ihm seine erste Sportprothese. Der Junge probierte sie an, lief los, dann weinte er. „Ein Elfjähriger, der wieder rennen kann“, sagt Rehm, „das ist doch das Allergeilste.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen