Mit Karl Marx Fußball verstehen
: Deutsche Demütigungin Griechenland

Bei der Europapolitik sind die Deutschen nicht zu stoppen,bei der U19-EMaber schon

Kolumne

Martin Krauss

Über Ballund die Welt

In Griechenland ausgeschieden! Gegen Russland! Noch dazu als Titelverteidiger! Die Bilanz ihres Auftritts bei der gerade stattfindenden Europameisterschaft sollte die deutsche U19-Auswahl besser nicht dem Wolfgang Schäuble beichten. Der böse Onkel könnte nämlich ganz schön grantig werden, wenn er erfährt, dass hier Steuergelder versenkt wurden. Ein 2:2 genügte der Auswahl nicht. Nun trifft Russland am heutigen Donnerstag im Halbfinale auf Gastgeber Griechenland, Spanien wird gegen Frankreich spielen.

Für irgendwelche antideutsche Häme gibt die U19 allerdings nichts her. Mit den Schäubles und Merkels haben die jungen Leute nichts zu tun, nicht mal mit abstimmen durften sie bei der letzten Bundestagswahl. Sie wurden geboren, als Berti Vogts seinen letzten Triumph feiern konnte: 1996. Auch die jungen Russen und Griechen haben mit Wladimir Putin und Alexis Tsipras nichts zu schaffen. Aber erklärungsbedürftig ist das Vorrunden-Aus der DFB-Elf, die als Favorit nach Griechenland gereist war, schon. Der letzte Platz in der Gruppe B wurde schließlich genau an dem Tag … sagt man da: herausgespielt?, an dem die deutsche Politik das griechische Volk so nachhaltig gedemütigt hat. Einen Zusammenhang zu leugnen, fällt genauso schwer, wie einen zu konstruieren.

Wie also analysiert man die politischen Einflüsse auf ein Fußballspiel? Die einfachste Methode besteht aus Analogiebildungen: Früher war das sehr beliebt, da wurde dann Willy Brandt als Günther Netzer gedeutet, Konrad Adenauer als Sepp Herberger, und irgendeiner, den wir uns als Mischung aus Jupp Derwall, Franz Beckenbauer und Berti Vogts vorstellen müssen, sollte dann fußballerisch den Helmut Kohl repräsentieren. Hm. Und heute? Welcher Politiker wäre dann Mesut Özil? Cem Özdemir? Und welcher Kicker machte uns die Angela Merkel? Philipp Lahm oder Jogi Löw?

Dieser Versuch, Sport und Politik zusammenzubringen, überzeugt schon deswegen nicht, weil er die wirklich nachweisbaren politischen Einflüsse komplett ignoriert: Dabei ist der Umstand, dass der DFB mit öffentlichen Mitteln Nachwuchsförderung betreibt, selbstverständlich ein Politikum. Anders als bei der U19 in anderen Sportarten gibt es hier hauptamtliche Trainer, die Spieler haben schon Profiverträge. Auch dass sich ein Land um die Ausrichtung der U19-EM bewirbt – und dass es für 2015 konkret Griechenland war –, ist eine politische Entscheidung, der mit launigen Analogien nicht beizukommen ist. Und noch weniger kann eine solche Annäherung ans Thema erklären, warum in einer bestimmten historischen Phase in einer bestimmten Gesellschaft eine bestimmte Art Fußball zu spielen dominiert.

Wenn man sich aber, was vermutlich sehr leicht geht, darauf verständigt, dass Musik, Malerei und Literatur immer vor dem historischen Hintergrund gesehen werden sollten, vor dem sie entstanden, dann sollte das wohl auch für die Kunst des Fußballspiels gelten. Karl Marx, der als Fußballexperte viel zu selten zitiert wird, hat diese Erkenntnis formuliert: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“

Im Fußball trifft dies These in jeder Hinsicht zu: In jedem Spieler drückt sich die soziale Umwelt, der er entstammt und in der er sich bewegt, auf eine spezifische Weise aus. Und weil es elf Spieler sind, die auf elf andere Spieler treffen, hat das mit individuellem Zufall sehr wenig zu tun.

Fußball ist nicht Politik, schon gar nicht hat die Politik die Macht, das runde Ding mal hierhin und mal dorthin zu bugsieren. Vielmehr tritt der Fußball selbst schon mal mit der Politik in Konkurrenz. Und wenn es auf dem Feld der Politik nicht gelingt, ein Unheil – sagen wir: die deutsche Europapolitik – zu stoppen, warum nicht wenigstens bei einer U19-EM in Griechenland? Fußball ist doch was Schönes.