Jenseits des Jägerzauns

Rot-Rot-Grün Kampf ums Homeoffice: Eine Studie untersucht, dass viele BürgerInnen ökosoziale Politik im Kleinen umsetzen. Wie links ist das viel zitierte Neobiedermeier?

Überschaubarer Kiez: Vor der Schiller-Bar in Berlin-Neukölln Foto: Stefan Boness

von Ulrich Schulte

Der Erfolg der Zeitschrift Landlust wird gerne als Beleg für die zunehmende Politikferne der Deutschen zitiert. Über eine Million Naturliebhaber lesen, wie sich Feldblumensträuße hübsch arrangieren lassen und warum Grünkern wieder in ist. Landlust gilt als Zentralorgan des selbstzufriedenen Neobiedermeier der Deutschen. Eine Studie wirft nun eine andere Frage auf: Sind Trends wie Landlust in Wirklichkeit links?

Duisburger Forscher um den Sozialwissenschaftler Frank Gadinger haben gesellschaftliche Narrative untersucht. Gemeint sind moderne Trends, die bei ­einer wachsenden Zahl der BürgerInnen gut ankommt, aber von Politik und Qualitätsmedien zu wenig erfasst werden. Die Forscher unter­suchten Regionalzeitungen, Magazine aus der Kulturszene, aber auch Internetblogs und soziale Netzwerke. Aus dem Datenwust filterten sie fünf Narrative heraus, welche die Sehnsucht vieler Deutscher nach öko­sozialem Fortschritt belegen könnten.

Ein Narrativ lautet: neue Überschaubarkeit. Viele Menschen suchten sich Nischen, um dem immer hektischeren Alltag zeitweise zu entfliehen. So könne man den Landlust-Lebensstil als wertkonservativ abwerten, schreiben die Autoren. Andererseits sei die Suche nach Entschleunigung auch progressiv. Gadinger sagt: Beim Trend zur Überschaubarkeit gehe es um Nähe, um Bio, um ein soziales Netz und um Verantwortung. „Wenn immer mehr aufgeschlossene Städter auf dem Erzeugermarkt einkaufen, dann hat das etwas Dörfliches.“

Galt das Dörfliche früher in progressiv denkenden Bürgermilieus als spießige Jägerzaunhölle, der möglichst schnell zu entfliehen sei, ist es heute wieder in – als Lebensentwurf in Städten. Überhaupt hätten sich urbane Vorlieben gewandelt, so die Studie. Gadinger verweist etwa auf den Trend bei jungen Leuten, auf ein Auto zu verzichten, das früher das Statussymbol schlechthin war: „Es könnte sein, dass das Auto ein ähnliches Schicksal ereilt wie die Zigarette.“ Es sei in Städten einfach nicht mehr cool.

Eine dörfliche Umgebung ist ein Lebensentwurf auch in Städten

In Auftrag gegeben wurde die Studie vom Verein Denkwerk Demokratie, der SPD und Grünen nahe steht. SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi und Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner stellten sie am Donnerstag im taz Cafe vor. Beide Politiker gehören zum jeweils linken Parteiflügel. Insofern war es wenig überraschend, dass sie viele Hinweise darauf entdeckten, dass eine progressive Politik im Kleinen sehr gewünscht sei. Kapitalismuskritik sei nach wie vor vorhanden, sie äußere sich nur anders, sagte Kellner. „Viele Menschen haben keine Lust mehr auf ideologische Großkonflikte, sie engagieren sich lieber im Konkreten.“

Als weiteres Narrativ definieren die Forscher den Wunsch nach einer anderen Lebens- und Arbeitswelt. Wer über das Hamsterrad des Arbeitswahnsinns stöhne, beschreibe die negativen Auswirkungen des Kapitalismus aufs tägliche Leben. Die Abschaffung der Präsenzkultur, die Aufwertung von Teilzeit, die Einrichtung von Kitas in Firmen, der Trend zum Homeoffice: „All dies sind Anzeichen einer sich wandelnden Arbeitskultur“, so die Forscher.

Fahimi sieht darin auch einen Arbeitsauftrag für die SPD. Auf Ängste, die mit der Arbeitswelt verknüpft seien, müsse Politik mit Sicherheitsangeboten reagieren. „Menschen wehren sich gegen ein durchökonomisiertes Leben, indem sie sich in Schutzräume zurückziehen.“