Der Markt der Gefühle

TANZ Von der Opferrolle bis zum Auskosten des Rollenspiels: Pina Bauschs Frühwerk „Die sieben Todsünden“ als Gastspiel im Haus der Berliner Festspiele

Mehr als 40 Jahre waren vergangen, seit Bertolt Brecht das Libretto „Die sieben Todsünden“ für eine Ballettmusik von Kurt Weill geschrieben hatte, als die junge Choreografin Pina Bausch aus diesem Stoff und einer Collage weiterer Brecht-Songs ihr Tanztheater formte. 2001 wurde das 1976 uraufgeführte Stück wiederaufgenommen. Womit man nicht rechnet, wenn man es jetzt mit seinen teilweise beinahe 60-jährigen Protagonistinnen sieht: dass diese Brecht-Interpretation noch immer oder schon wieder erfahrungsgesättigter und glaubwürdiger wirkt als viele der heutigen Versuche, mit Brecht eine Runde Kapitalismuskritik hinzulegen.

Die Berliner Festspiele haben Pina Bauschs Klassiker in ihr Programm Spielzeit Europa eingeladen. Dass auch im Publikum die über 50-Jährigen unter sich bleiben, ist ein etwas bitterer Tropfen – als ob hier alles mit dem Älterwerden zu tun haben müsste.

Zwei Stars des Abends sind Mechthild Großmann, die das tieftraurige Lied vom Surabaya-Johnny mit einer rauen Lachsalve einleitet, und Josefine Ann Endicott. Von ihr erschien dieses Jahr ein kleines Buch, „Warten auf Pina“, in dem sie unter anderem erzählt, wie sie sich schon auf ein Leben nach dem Theater, als Landpomeranze, eingestellt hatte, als Pina Bausch sie doch noch einmal zurückrief, sich den Schmerzen von High Heels auf der Bühne, täglichem Training und magerer Kost auszusetzen. Wie gut, dass sie es tat. Denn ihr Alter fügt der Rolle der Anna II aus den „sieben Todsünden“, die von ihrer Schwester Anna I als Ware zugerichtet wird, eine große Dimension hinzu.

Pina Bausch legte Brechts Ballade ganz als Geschichte der ihren Körper und ihre Gefühle ausbeutenden Frau aus. Bausch Interpretation atmet ganz sicher den feministischen Zeitgeist der 70er-Jahre. Die auf die Bühne zurückgekehrte Ann Endicott verleiht der Rolle aber zugleich die Aura eines lebenslangen und vergeblichen Kampfes gegen den Zwang jeglicher Anpassung an die Normen des Marktes.

Dem Expressionismus mit seinen holzschnittartigen Gesten ist das Ensemble im ersten Teil der „sieben Todsünden“ nahe. Im zweiten Teil, der Collage nach Brecht-Weill-Songs, sind die Ensembleszenen dagegen spielerischer und von jener Mischung aus erotischer Anziehung und Parodie, aus Verlangen nach Zärtlichkeit und Verlachen der romantischen Sehnsucht, die Pina Bausch bis zu ihrem letzten Stück beibehalten hat. Alle, Frauen und Männer, tragen leuchtende Lidschatten, wilde Perücken und leichte Dessous; und jeder legt eine andere persönliche Note in den Flirt mit dem Publikum.

Ist im ersten Teil der Künstler, der die eigene Haut zu Markte trägt, noch in eine Opfer- und eine Täterrolle gespalten, beginnt im zweiten Teil die Verkehrung der Vorzeichen, das Auskosten des Rollenspiels. Das, was zum Beispiel Pollesch-Diven bis heute in unendlichen Varianten ausbreiten: die verschlampte Nonchalance, mit der Gesten wieder und wieder zitiert und angeeignet werden. KATRIN BETTINA MÜLLER

■ Bis 13. Dezember im Haus der Berliner Festspiele