piwik no script img

Archiv-Artikel

Tragische Parallelen zum Fall Jessica

Landgericht verhandelt seit gestern gegen Eltern aus Lohbrügge, die ihre zweijährige Tochter Michelle verwahrlosen und sterben ließen. Behörde wusste von Problemen in der Familie. Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Mitarbeiter. Mutter räumt vor Gericht Fehler ein

Es war Zufall, dass Ende Oktober zwei schwer vernachlässigte Kinder in einer Wilhelmsburger Wohnung gefunden wurden. Experten schätzen, dass auf jeden bekannt gewordenen Fall rund 50 weitere kommen, in denen eine Kindesmisshandlung nie zutage tritt. So hatten auch vom Martyrium der siebenjährigen Jessica selbst die Nachbarn in der Hochhaussiedlung erst erfahren, als das Kind am 1. März infolge von Unterernährung starb. Seit gestern verhandelt das Hamburger Landgericht über einen vergleichbaren Fall: Die Eltern der zweijährigen Michelle aus Lohbrügge müssen sich wegen fahrlässiger Tötung verantworten.

Michelle war am 1. Juli 2004 gestorben, als sie aufgrund anhaltender Mangelversorgung eine Mandelentzündung nicht bewältigen konnte und ein Hirnödem entstand. Einen Arzt riefen die Eltern erst, als ihre Tochter schon mehrere Stunden tot war.

„Mir ist das alles über den Kopf gewachsen“, sagte die 28-jährige Mutter gestern vor Gericht. Mit ihrem Lebensgefährten (34) hat sie sechs Kinder. Mit jeder Geburt sei ihre Überforderung gewachsen: „Ich habe einiges falsch gemacht.“ Die Wohnung der Familie war vollkommen verschimmelt und verdreckt. An den Kinderzimmern waren die Türklinken abmontiert, so dass die Kinder die Räume nicht verlassen konnten – oftmals, so der Staatsanwalt in seiner Anklage, 24 Stunden am Tag. In den Zimmern habe sich so hoch Unrat gestapelt, dass die Türen sich kaum mehr öffnen ließen. Als Polizisten am 1. Juli in die Wohnung kamen, trafen sie alle Kinder eingekotet an.

Die übrigen fünf Töchter und Söhne leben inzwischen im Heim. Die Eltern, wirft die Staatsanwaltschaft ihnen vor, hätten die Geschwister völlig unzureichend versorgt und ernährt. Deren Entwicklung war zum Teil erheblich verzögert. Michelle konnte mit zweieinhalb Jahren noch nicht laufen, weil die Eltern eine Fehlstellung der Füße nie einem Arzt gezeigt hatten. Erst als das Kind tot war, so die Mutter, seien ihr die „schrägen Füße“ aufgefallen.

Trotz ihres dramatischen Zustandes vorigen Juli riefen die Eltern für Michelle keinen Arzt. Ihre vier jüngsten Kinder seien nicht krankenversichert gewesen, begründet dies die Mutter. Daran, sie wie die beiden Ältesten beim Vater mitzuversichern, habe sie nicht gedacht. Michelles Vater ist selbst Rettungsassistent. Um seine schwer kranke Tochter kümmerte er sich nicht.

Wie im Fall Jessica und jenem der Wilhelmsburger Geschwister war auch Michelles Familie bei den Behörden aktenkundig. Anfangs seien die Kinderzimmer noch von einer Mitarbeiterin des Jugendamtes kontrolliert worden, so die Mutter. „Da waren sie noch nicht in diesem Zustand.“ Mit einer neuen Betreuerin, die seit dem Frühjahr 2004 zuständig war, sei sie dann aber nicht zurechtgekommen. „Die hat sich keine Zeit genommen und nur Vorschriften gemacht.“

„Es war bekannt, dass die Familie Hilfe braucht“, bestätigt der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Rüdiger Bagger. Wegen des Verdachtes der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen ermitteln die Ankläger auch gegen einen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Bergedorf sowie gegen zwei Kollegen von privaten Trägern. Diese hatten den Auftrag, die Familie im Alltag zu unterstützen. Dem derzeitigen Ermittlungsstand zufolge, so Bagger, haben sie sich aber „nicht genug gekümmert“. Elke Spanner/Kristina Allgöwer