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KONKRETE UTOPIE Den "ökologischen Fußabdruck" um 75 Prozent reduzieren: Serge Latouches Degrowth-BibelRaus aus Metropolis

Degrowth oder Barbarei“ – für den Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen Serge Latouche gibt es keinen Zweifel, wohin die Reise geht, wenn der „Wachstumswahn“ weiter ökonomischer Main­stream bleibt: voll gegen die Wand.

„Es reicht!“, so der unmissverständliche Titel seines Buches, das schon seit 2007 in Frankreich als „Bibel“ der Wachstumsrücknahmebewegung gilt und jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt.

Wer glaube, in einer endlichen Welt sei unendliches Wachstum möglich, könne nur verrückt sein – so der Ökonom. Mit diesem Zitat des amerikanischen Wachstumskritikers Kenneth Boulding kommt Latouche auf den Punkt: „Die Grenzen des Wachstums“ wie sie der Club of Rome schon vor über vierzig Jahren formulierte – und nach ihm zahlreiche Stu­dien, Enquetekommissionen und Klimakonferenzen – sind längst überschritten; eine radikale Abkehr von Wirtschaftsformen, für die Wachstum reiner Selbstzweck ist, überlebensnotwendig.

Warum, beschreibt Latouche kenntnisreich mit vielen Querverweisen aus Wirtschafts- Sozial- und Umweltwissenschaft, Philosophie oder Politik. Sein Buch ist scharfsinnige Analyse und „konkrete Utopie“ in Richtung Wachstumswende, denn für Regierungen und führende Ökonomen gilt ein „Weiter so!“

Ein wachsendes Bruttoin­landsprodukt (BIP) sei nach wie vor Garant für Wohlstand und Allheilmittel gegen Arbeitslosigkeit: für Latouche ein selbstmörderischer Denkfehler, denn von globalen Umweltschäden abgesehen – allen voran die Klimaveränderung – stehe bei den weltweit vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftsmodellen am Ende der optimierten Produktionskette Arbeitslosigkeit und soziales Elend; politischer Zündstoff, der Demokratie zerstöre und letztendlich in die „Barbarei“ führen könne.

Latouche setzt „Ökopolis“ gegen „Metropolis“, um aus dem „Teufelskreis“ von Konsum, Werbung (um Konsumwünsche zu wecken), Kredit (um sie zu finanzieren) und „geplanter Obsoleszenz“ (absichtlich verringerte Lebensdauer von Produkten) auszusteigen. Das politische Programm von „Degrowth“ ist eine Herausforderung für alle Wachstumsapologeten , denn um den Planeten nicht weiter mit Füßen zu treten, müsse, so Latouche, der „ökologische Fußabdruck“ um etwa 75 Prozent reduziert werden.

Das bedeutet massivste Einschränkung bei Produktion und Energieverbrauch, also schlechte Nachrichten auch für alle reiselustigen Vielflieger und Automobilisten. Umweltsteuern sollen ihnen die Kosten auferlegen, die sie verursachen (in Frankreich laut Latouche rund 25 Milliarden Euro pro Jahr).

Global denken, lokal handeln – im postfossilen Zeitalter wird die Notwendigkeit infrage gestellt, „eine beträchtliche Anzahl von Menschen und Waren auf dem Planeten hin und her zu transportieren“. Die Länder des Südens sollen nicht weiter als Billigproduzenten ausgebeutet werden, ihre Märkte nicht mehr durch Exporte aus den Industrienationen zerstört werden.

Die Rückkehr zur bäuerlichen Landwirtschaft mit lokalen, saisonalen Produkten, die ohne Gentechnik und Pestizide hergestellt werden, ist für Latouche ein Muss – ebenso wie die Förderung von „grüner Chemie“ oder Umweltmedizin statt Genetik .

„Degrowth“ ist eine Herausforderung für alle Wachstums­apologeten

Ein Buch zum Träumen? Dafür wäre in der Degrowth Society auf alle Fälle viel Zeit, denn eine bedürfnisärmere Gesellschaft hat weniger Arbeit, die auf mehr Menschen verteilt werden kann. Dafür gäbe es mehr Muße für Familie, Kultur, Sport, Bildung Politik, gemeinnützige Arbeit, soziale Kontakte.

Und wovon sollen wir leben? Die Vorschläge hierzu liegen bevorzugt im grünen Bereich, etwa in der Erweiterung der Biolandwirtschaft oder in der Entwicklung und Produktion grüner Technologien.

Zum Überleben braucht der künftige Homo oeconomicus aber vor allem eines: Er muss verzichten wollen. Agnes Steinbauer

Serge Latouche: „Es reicht!“. Übers. v. Niko Paech. Oekom Verlag, München 2015, 208 Seiten, 14,95 Euro

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