Das Selbst wankt dann anders

ESSAYS UND ERZÄHLUNGEN Lakonisch und präzise sind die Texte in "Das Gegenteil von Einsamkeit", dem einzigen Buch der jungen, früh verstorbenen US-amerikanischen Autorin Marina Keegan

Marina Keegan (1989–2012) Foto: McKay Nield

Es liegt eine eigentümliche Anziehungskraft in der Verbindung von Begabung und frühem Tod. Nimmt man das Buch der US-amerikanischen Autorin Marina Keegan zur Hand, spielt das Wissen, dass sie 2012 nur wenige Tage nach ihrem Yale-Abschluss mit 22 Jahren bei einem Autounfall starb, eine Rolle, und während der Lektüre bleibt es präsent.

In den USA wurde das Buch ein Bestseller, unwahrscheinlich, dass dies ohne den tragischen Hintergrund geschehen wäre – nicht etwa, weil Keegan keine begabte Autorin wäre, aber ein Debüt mit einer recht disparaten Zusammenstellung von Erzählungen und Essays hätte es nicht leicht gehabt. Und wäre ihre Abschlussrede in Yale, die dem Band seinen Titel gibt und darin abgedruckt ist, solch ein Hit im Netz geworden?

Das Schöne ist, dass diese Fragen nicht entscheidend sind, sondern dass sich in „Das Gegenteil von Einsamkeit“ tatsächlich eine vielversprechende junge Autorin zeigt; hier wird der frühe Tod nicht genutzt, um mittelmäßige Literatur zu pushen.

Die Texte wurden von Keegans Eltern und von FreundInnen zusammengestellt, und auch ihre Literaturprofessorin Anne Fadiman hat dabei geholfen. Sie hat das Vorwort geschrieben und zitiert Keegan mit den Worten: „Ich habe beschlossen, Schriftstellerin zu werden. Und zwar eine richtige. Mit Haut und Haar.“ So ist die Arbeit an der Zusammenstellung ein Akt der Würdigung und die einzige mögliche Handlung, um Keegan in dem zu zeigen, was sie sein wollte.

Der Band versammelt neben der Abschlussrede neun „Stories“ und acht weitere Texte, die mit dem Begriff Essay nicht immer treffend bezeichnet sind. Es sind vor allem die Erzählungen, die beeindrucken.

Tiefe Verunsicherung

Oft sind die ProtagonistInnen in Keegans Alter, StudentInnen, wohlstandsweich gebettet, doch in ihren Selbstbildern und Beziehungen tief verunsichert. In „Kalte Idylle“ erscheint die uneindeutige Liebesgeschichte zwischen der Ich-Erzählerin und Brian in einem neuen Licht, als letzterer unerwartet stirbt. Keegans Tonfall ist in allen ihren Erzählungen fast lakonisch, sie ändert kaum die Dynamik, doch gelingen ihr genau auf diese Weise prägnante Zustandsbeschreibungen, trifft sie präzise die Empfindungen ihrer Figuren, die wesentlichen Momente einer Situation. „Brian sah gut aus, rauchte genau so viel wie ich, und manchmal wachte ich morgens mit einem Lächeln im Gesicht auf, weil er mir das Gefühl von Geborgenheit gab. Im März starb er. Ich machte mir gerade eine Thaisuppe in der Mikrowelle, als mich sein bester Freund anrief und fragte, ob ich wisse, in welchem Krankenhaus er liegt. ‚Wer?’, fragte ich. ‚Brian’, sagte er. ‚Weißt du es denn nicht?’“

Der Tod Brians verändert den Blick auf das Gewesene. Das Selbstbild der Erzählerin wird zudem durch die Konfrontation mit dessen Ex-Freundin erschüttert, deren klare und starke Gefühle sie in sich selbst nicht finden kann. Und welche Rolle ist die ihre in den Augen von Brians Familie, der MitstudentInnen? Welches Verhalten, ja welches Fühlen ist „angemessen“?

Unklare Beziehungen, Unsicherheiten im Umgang miteinander sind in fast allen Erzählungen Thema, sei es in aktuellen oder nur vermeintlich abgeschlossenen Liebesbeziehungen, in Freundschaften oder im Verhältnis von Eltern und Kindern, wie in „Winterferien“. Hier spiegelt die frische Verliebtheit der Tochter der Mutter die Schalheit der eigenen Ehe – das ist so leise wie eindringlich erzählt.

Erstaunlich sind die Empathie und das Verständnis Keegans, wenn sie sich in ältere Figuren hineinversetzt. Herausragend ist da die Erzählung „Sei gegrüßt, du Begnadete“, in der es um eine 42jährige alleinerziehende Frau geht, die ein Baby adoptiert – und einst eine leibliche Tochter zur Adoption frei gab. Keegan spürt hier der Erfahrung eines zurückliegenden Verlustes nach – des Kindes, aber auch einer intensiven Liebe –, einer Prägung, die bis in die Gegenwart wirkt; in der doch die Aufgabe zu bewältigen ist, weiter Zukunft zu denken und darin lebendig zu sein.

Es ist verblüffend, dass Keegan sich aus den Unsicherheiten heraus, die im Jungsein liegen, eine Vorstellung von jener Verunsicherung machen kann, die aus Erfahrungen erwächst, die das Älterwerden mit sich bringt. Das Selbst wankt dann anders.

Oft haben Keegans Stories solch einen Kipppunkt, wie hier den Umstand, dass die Ich-Erzählerin einst ein Kind zur Adoption freigab. Die Tragweite des bis dahin Verhandelten wird dann erst sichtbar, und die Handlung nimmt eine Wende.

Die Essays, die teils eher Reportagen oder Selbstberichten nahe kommen, offenbaren durchaus das journalistische Talent Keegans, wirken aber weniger ausgearbeitet (was sie, die es „immer noch besser“ machen wollte, ja nicht mehr tun konnte). Das Alter der Autorin spürt man hier deutlicher, was auch an dem Idealismus liegt, der sich mit dem Elite-Bewusstsein einer Yale-Studentin verbindet. Hier finden sich Zeilen, die das Jungsein beschwören, die vielen Möglichkeiten, die viele Zeit – sie berühren auf besondere Weise. Über der Freude, eine neue, junge Autorin entdeckt zu haben, liegt der traurige Schatten, ihre Entwicklung nicht weiter verfolgen zu können. Carola Ebeling

Marina Keegan: Das Gegenteil von Einsamkeit. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit. S. Fischer, 2015. 285 Seiten, 18,99 Euro.