: Fragwürdige Alterstests für Flüchtlinge
Asyl Flüchtlingseinrichtungen kritisieren peinliche Intimkontrollen bei Jugendlichen
Anlaufstelle für junge unbegleitete Flüchtlinge in Berlin ist die Erstaufnahme- und Clearingstelle (EAC) in Steglitz-Zehlendorf.
2014 wurden von der EAC 606 junge AsylbewerberInnen anhand eines Quotenschlüssels an die jeweiligen Jugendämter der 12 Bezirke verteilt und von diesen betreut.
Bestehen offenkundig Zweifel am angegebenen Alter, erfolgt die medizinische Altersschätzung. Bis zum 30. November 2014 wurden 136 Gutachten erstellt, 111 der untersuchten Flüchtlinge waren demnach über 18 Jahre.
Auch in Berlin müssen sich junge Flüchtlinge fragwürdigen Tests zur Ermittlung ihres Alters unterziehen und sich unbekleidet am ganzen Körper untersuchen lassen, heißt es aus Kreisen des Berliner Flüchtlingsrats. Vergangene Woche war bekannt geworden, dass Hamburg das biologische Alter unter anderem anhand des „Reifezustandes der Genitalregion“ feststellt. Die taz berichtete darüber in ihrer Nordausgabe. Der Bericht schlug hohe Wellen. Anders als in der Hansestadt soll in der Charité, die in Berlin die Altersfeststellung durchführt, keine spezielle Untersuchung des Intimbereichs stattfinden.
Kommen junge Flüchtlinge ohne Eltern und Pass nach Berlin, haben sie als Minderjährige Anspruch auf Jugendhilfe und sind vor Abschiebung geschützt. Als Erwachsene hätten sie in der Regel keinen Anspruch mehr auf die für die Bezirke teuren Jugendhilfeleistungen. Die Behörden prüfen die Altersangaben der Flüchtlinge daher sehr genau, im Zweifelsfalll medizinisch.
Die Charité erklärt, dass bei der Altersfeststellung sowohl Röntgenaufnahmen des Gebisses und gegebenenfalls auch des Handwurzelknochens angefertigt werden als auch eine Ganzkörperuntersuchung „zur Feststellung der Reifezeichen“ durchgeführt wird.
„Jugendliche haben mir von Ganzkörperaufnahmen berichtet, zu denen sie sich nackt ausziehen mussten“, sagt Andreas Meißner, Leiter der Berliner Jugendhilfeeinrichtung Evin, der in seiner Einrichtung unbegleitete Flüchtlinge betreut. Ihm zufolge fände zwar keine gesonderte Untersuchung des Genitalbereichs statt, wohl aber eine Begutachtung des Schamhaarwuchses. Wie viele Jugendliche sich tatsächlich unbekleidet fotografieren lassen mussten, kann er nicht sagen. Aber es seien „in den letzten Jahren keine Einzelfälle gewesen“, die Aussagen der Jugendlichen halte er für glaubwürdig. Stefan Taeubner, von 1996 bis 2014 Seelsorger für vietnamesische Flüchtlinge und Migranten im Erzbistum Berlin, sagt: „In Berlin werden seit Jahren reihenweise und systematisch Intimkontrollen in unwürdiger und erniedrigender Weise durchgeführt.“
Die Charité bestätigte auf Nachfrage die Praxis der Ganzkörperuntersuchung, es erfolge aber keine „spezielle Genitaluntersuchung“. Wann eine Untersuchung als „speziell“ gilt, bleibt offen. „Fotoaufnahmen im unbekleideten Zustand“ dementiert die Klinik.
„Wenn die Geschlechtsteile der Flüchtlinge ohne konkrete medizinische Begründung untersucht werden, dann verstößt das klar gegen die Menschenwürde und Artikel 1 des Grundgesetzes“, so Canan Bayram, Flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. Mit der gängigen Praxis liege außerdem ein dauerhafter Verstoß gegen die UN- Kinderrechtskonvention vor, einzig um Kosten zu sparen.
Die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft äußerte sich auf Nachfrage der taz nicht zu den Vorwürfen, sondern verwies direkt an die Charité.
Der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge hat in einer am Samstag herausgegebenen Broschüre Prüflisten für die Alterseinschätzung erarbeitet. Diese sollen künftig Probleme bei der Alterseinschätzung im Sinne des Kinder- und Jugendschutzes identifizieren. Wiebke Nordenberg
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