piwik no script img

Trink auf mich, wenn ich weg bin

Istanbul ist zur Zwischenstation für uns Syrer geworden, auf dem Weg in ein neues Leben

Als ich gehen ich gehen musste, war ich 16 Jahre alt. Ich verließ Syrien und verbrachte meine erste Nacht außer Haus. Ich weiß noch, wie ich meine Großmutter fragte: „Warum muss ich in die USA? Du bist doch auch hier geblieben und du bist eine erfolgreiche Ärztin geworden, warum kann ich das nicht?”

Ich habe geweint, viel geweint und packte mein syrisches Leben in eine Tasche. Meine Schulhefte kamen dort hinein, gemalte Bilder von Freunden und meiner Familie, meine alten Kinderspielsachen, meine vom Matsch verschmierten Kleider, die ich trug, als ich das letzte Mal mit meinen Freunden am Strand gespielt hatte, und noch viele andere Kleinigkeiten. Ich wollte mich an alles aus Syrien erinnern, bloß nichts vergessen.

In Chicago angekommen, lehnte ich die ersten Monate alles und jedes ab. Nichts gefiel mir. Ich wollte keine neuen Freunde und keine PriviIegien, die Syrer in Syrien nicht haben. Noch nicht einmal wachsen wollte ich, denn jede Veränderung kam mir wie ein Verrat an meiner Familie und meinen Freunden in Homs vor. Doch dann bekam ich einen Job in einem Kinderhort, und alles veränderte sich.

Meine Chefin sagte mir immer und immer wieder: „Sei du selbst, dann wird alles gut.” Sie war stolz auf ihre Hautfarbe , gab liebend gerne mit ihr an und hasste es, wenn jemand sie als „Afroamerikanerin” bezeichnete. Solche „freundlichen” Sätze machten sie wahnsinnig. An meinem letzten Tag verabschiedete sie mich mit den Worten: „Du bist eine Person mit Zukunft. Lass nicht zu, dass jemand sie dir ­verbaut, und sei stolz auf dich.” Ich beendete die Uni, schloss viele Freundschaften und wurde eine Amerikanerin. Was, wenn ich zu Besuch nach Syrien zurückkehrte, etwas anstrengend war.

2013 zog ich dann nach Istanbul. Ich wollte dem verwundeten Syrien nahe sein, dieser Umzug fiel mir leicht. Hier traf ich viele Syrerinnen und Syrer, die anders als ich in der ersten Reihe gestanden hatten, als die Revolution 2012 begann und die nun fliehen mussten. Wir haben meist die gleichen politischen Ansichten und sie wurden genauso von Syrien gebrochen und verraten wie ich. Einige sind stark und verschließen den Schmerz in ihrem Herzen, andere sind schwächer. Einige von ihnen lieben Kunst und Kultur, andere nicht. Aber jeder von ihnen hat mich besser verstehen lassen, was in Syrien vor sich geht, jeder hat etwas bei mir gelassen. Denn für die meisten ist Istanbul nur Zwischenstation, sie warten hier, um anderswo ein neues Leben zu beginnen. Viele sind mittlerweile in Europa. In Istanbul habe ich die Kraft, unendlich oft Abschied zu nehmen. Keine Ahnung, woher ich sie nehme.

Als Hassan und Dima nach Frankreich aufbrachen, war ich noch sehr aufgewühlt. Sie wollten sich keinem Schlepper anvertrauen, hatten also ein Visum beantragt und warteten auf die Zusage. Ich hoffte, dass ihr Antrag abgelehnt würde, und versuchte mich gleichzeitig davon zu überzeugen, wie fantastisch ein Visum für sie wäre. Als ich ihnen beim Packen half, kam es mir vor, als würden sie auch einen Teil von mir einpacken. Als sie gingen, war ich außer mir vor Wut.

Kamel ging mit einem Schlepper. Er floh aus Syrien, weil er zum Militär eingezogen werden sollte, aber das wollte er auf keinen Fall. Ihm drohte Gefängnis. Stundenlang überlegten wir, welches der beste Weg ist, um Griechenland zu Fuß zu durchqueren. Kamel zeichnete Routen in Landkarten ein und kaufte sein erstes Smartphone, das ihn per Google Maps nach Deutschland bringen sollte. Zweimal wurde er von der Polizei geschnappt. Erst dann war er bereit, einen Schlepper zu bezahlen. Er hatte damals überhaupt kein Geld und fing an zu hungern, um zu sparen. Er schlief ein paar Tage bei mir, dann in einem kleinen Zelt in der Nähe vom Strand. Ich half ihm, einen Job in Istanbul zu finden, er verdiente 400 Euro pro Monat. Nach acht Wochen kratze er sein ganzes Erspartes für einen Schlepper zusammen, und versuchte die Flucht ein drittes Mal. Heute wohnt er dort in einem Heim in Deutschland und schickt mir ab und an Nachrichten aus seinem neuen Leben.

Kamel ist kein Freund der Revolution, er denkt, sie habe ihm sein Leben versaut. Das war das größte Problem zwischen uns. Einmal schrien wir uns auf der Straße heftig an, und ich ließ ihn stehen, lief dann am Ende aber doch zu ihm zurück. „Hör zu, wir sind alle am Arsch. Du bist vorm Militär geflohen und wirst gesucht, so wie wir alle. Dem Verbrecher (Baschar al-Assad) ist es egal, dass du mir ständig sagst, wie falsch du die Revolution findest. Wenn sie dich kriegen, wirst du gefoltert, wahrscheinlich sogar getötet, fertig. Das weißt du ganz genau. Wir wissen beide, dass alles anders gekommen wäre, wenn das Regime nicht so brutal wäre. Du willst die Revolution weiter schlechtreden, ich will das nicht hören. Aber wenn du über was anderes sprechen willst, in Ordnung.” Kamel akzeptierte mein Angebot.

Bilal nahm von Istanbul nach Adayna den Bus und lief dann Richtung Europa ebenfalls zu Fuß, die letzte Etappe nach Österreich legte er wieder im Bus zurück. Wir leben im 21. Jahrhundert mit all unserer hochentwickelten Technik, aber Menschen durchqueren Kontinente noch immer zu Fuß für eine bessere Zukunft. Bilal hat eine Frau und zwei Töchter. Seine Frau wartet darauf, dass er seine Papiere bekommt, damit er seine Familie nachholen kann. Ich traf sie vor ein paar Wochen. Alles in der Familie dreht sich um den abwesenden Vater. Überall sind Fotos von ihm, sie sind der Bildschirmschoner auf den Handys, Computern und stehen neben ihren Betten. Vor allem die Kleine versteht nicht, dass ihr Vater zwar lebt, aber nicht bei ihr ist. Sie ist fast vier Jahre alt. Sie sieht ihn via Skype und fasst immer wieder den Bildschirm an. Im Oktober ist er ein Jahr weg. Seine Frau wünscht sich, er wäre bei ihnen in Istanbul geblieben.

Sherien Al-Hayek

ist eine syrische Bloggerin. Geboren in Homs, holte ihr Vater sie mit 16 Jahren nach Chicago. Dort studierte sie Architektur und Kommunika­tionswissenschaften. Aktuell lebt und arbeitet sie als Videojournalistin in Istanbul und ist in der Flüchtlingshilfe für Syrer aktiv. 2012 wurde sie bei den BOB-Awards der Deutschen Welle für die Beste Soziale Aktivisten-Kampagne ausgezeichnet – und gewann im gleichen Jahr die Goldene Nica, den Preis des renommierten Ars Electronica Institut in Linz.

Omar wurde zu einem Workshop für Künstler nach Deutschland eingeladen und kam nie zurück.

Ahmad wurde erwischt, als er mit einem gefälschten Pass nach Schweden fliehen wollte. Wenige Wochen später kam er aus dem Gefängnis frei und versuchte es auf dem Seeweg. Er hat es geschafft und wartet jetzt auf seine Papiere.

Mohammad hat ein Stipendium für klassische Musik in Dänemark bekommen, und auch er hat nicht vor, zu uns zurückzukehren.

Maya, Sarah, Husam und Faisal und und und, sie alle haben mich verlassen oder warten auf die beste Gelegenheit, es zu tun. Istanbul ist zu einer Zwischenstation geworden und die Entscheidung, hierzubleiben, fällt mir immer schwerer. Ich treffe auf Menschen, sehr nette Menschen, doch dann gehen sie weiter, und ich bleibe zurück. Sie berühren mich tief mit ihren Geschichten, Hoffnungen und Talenten, dann verlieren wir uns wieder. Jeder hat mir eine kleine Lektion fürs Leben erteilt, manche beeindrucken mich mehr, andere weniger, und jede ist anders.

Manchmal fühle ich mich sehr privilegiert, dass ich schon zur Ausländerin, in meinem Fall Amerikanerin, geworden bin. Eine Freundin, die ich gerade in Berlin besuchte, sagte mir vor ein paar Wochen: „Sei deinem Vater dankbar, dass er dich in die USA geholt hat. In Deutschland mache ich das Gleiche für meine Kinder und hoffe, dass sie mir eines Tages dankbar sein werden, denn jetzt ist die Umstellung sehr schwer für sie. Die Heime hier sind schrecklich, diese Erfahrung wird mich mein ganzes Leben begleiten.”

Ich weiß, wie privilegiert ich bin. Menschen sterben, um dorthin zu kommen, wo sie sich als Mensch fühlen können, und ich darf das bereits. Ich weiß das genau. Deswegen rede ich über dieses Thema nicht gerne. Denn ich möchte nicht, dass dieser Unterschied mich von meinem Freunden zu weit entfernt, also versuche ich nicht darüber nachzudenken.

Ein Freund, er ist in Schweden, sagte mir einmal: „Ich habe ein Jahr im wunderschönen Istanbul gelebt und konnte nichts genießen, weil ich mich ständig um meine Zukunft gesorgt habe. Bescheuert!” Istanbul, diese wundervolle Stadt voller Kultur und Geschichte, ist für Syrer zu einem Bahnhof geworden. Die meisten haben nicht eine einzige Sehenswürdigkeit besucht. Die meisten gehen, wie sie gekommen sind, und ihre Erinnerung an diese Stadt macht sie ärgerlich oder zumindest unglücklich.

Vor ein paar Tagen lud mich Faris zu sich nach Hause ein. Er sammelte sämtliche halbleeren Weinflaschen in seiner Wohnung ein. Etwa 17 Weinflaschen und 3 oder 4 Rakiflaschen kamen zusammen. Jede war ein Überbleibsel von der letzten Nacht mit einem Freund. Er hatte sie alle aufgehoben. Wir setzten uns hin, sagten die Namen unserer verlorenen Freunde und stießen auf sie an. Faris war schnell betrunken.

Muss ich auch mal auf dich anstoßen?, fragte ich ihn. Er begann zu weinen, ich auch. All die leeren Flaschen, all die Erinnerungen an die traurigen und glücklichen Momente und die Gedanken daran, wo sie jetzt in ihrem Leben stehen und was wohl in fünf oder zehn Jahren mit ihnen sein wird. Als ich Faris an diesem Abend verließ, drückte er mir eine halbvolle Flasche in die Hand und sagte: „Bewahr sie auf, bis ich weg bin, und dann stoß auf mich an.” Sherien Al-Hayek

Aus dem Englischen von Ines Kappert

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen