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Erinnerungsarbeit

STAATSOPER Im Schillertheater ging die Saison wieder mit der „Infektion!“ zu Ende. So heißt seit nunmehr fünf Jahren ein so genanntes „Festival für neues Musiktheater“. Aber was heißt „neu“?

Karlheinz Stockhausen: Originale Foto: Abbild.: Georg Schütky/Staatsoper

von Niklaus Hablützel

Es begann mit Prominenz. Gerhard Rühm las eigene Gedichte. Irm Hermann gab ein Gastspiel – als Irm Herrman, die Schauspielerin. Ist die Liebe kälter als der Tod? Essen Angst Seele auf? Nein, nicht in der Werkstatt des Schillertheaters. So heißen nur zwei der vielen Fassbinder-Filme, in denen Irm Hermann mitgespielt hat. Hier tritt sie auf als Erinnerung und lebendes Denkmal einer großen Künstlerin der Bühne und des Kinos.

Sie geht mit Würde über die Podeste, zwischen Publikum, Beleuchter und Tonmeistern. Auf einem Hochsitz gibt ein Dirigent Einsätze, auch für zwei weitere (jüngere) Schauspielerinnen, zwei Schauspieler, die Garderobenfrau, eine Modestylistin, einen Drehorgelspieler. Sogar die komplette „Antinational Embassy“, eine Reagea- und Rap-Gruppe, hat einen Auftritt mit ihren Songs gegen die Diskriminierungen von Flüchtlingen.

Köln 1961

Sie alle sollen einfach nur „sie selbst“ sein. So hatten es sich Hubertus Durek und Carlheinz Caspari 1961 am Theater am Dom in Köln ausgedacht. Karlheinz Stockhausen und Mary Bauermeister ließen sich darauf ein. Unter dem Titel „Originale“ gaben sie ein dickes Bündel Papier ab, das vorschreibt, an welchen Stellen von Stockhausens Stück „Kontakte“ Aktionen eingefügt werden sollen.

Es fällt schwer, von einem „Werk“ zu sprechen, denn Durek und Caspari wollten den Geist des Netzwerkes „Fluxus“ in ihr Kölner Theater holen. So disparat die Vorstellungen der weltweit zerstreuten Akteure auch waren, einig waren sie sich vor allem darin, keine Werke zu schaffen. Kunst und Alltag sollten verschmelzen in Aktionen außerhalb der etablierten Institutionen. Natürlich hatte auch Stockhausen davon gehört. Selbst hatte er jedoch eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Geradezu paradigmatisch stehen die zwischen 1958 und 1960 entstandenen „Kontakte“ für seine Idee, jeden Parameter von Klängen exakt zu definieren und mit algorithmischen Regeln zu verknüpfen.

Ein Pianist, ein Schlagzeuger und vier Lautsprecher erzeugen eine hermetisch komplexe Musik. Sie fasziniert noch heute durch ihre esoterische Konzentration. Klangereignisse von Instrumenten und Tonbändern verweisen auf sich selbst und sonst gar nichts. Absoluter und in sich abgeschlossener kann ein Werk gar nicht sein. Trotzdem schien es Stockhausen geeignet, mit dem genauen Gegenteil seiner Absichten zu kokettieren.

In der Uraufführung von Köln ging alles gut. Die Wiederholung von 1964 in New York ging in Tumulten unter. Nicht konservative Bildungsbürger waren schockiert, die Fluxus-Gemeinde tobte. Mit gewissem Recht erkannte sie das Auftragswerk eines deutschen Theaters als Fremdkörper in ihren Reihen. Stinkbomben flogen auf die Bühne, der Fluxus-Urvater George Macunias warf Stockhausen „kulturellen Imperialismus“ vor.

So weit mochten nicht alle gehen, aber als Fluxus-Akt waren die „Originale“ gescheitert. 26 Jahre danach gab es in San Francisco eine Erinnerung an den Skandal, 2009 in Sindelfingen, 2014 wieder in New York und jetzt auch in Berlin, in der ebenfalls legendären Werkstatt des Schillertheaters. Mit einem unprätentiös informativen Vortrag erinnerte die Kunsthistorikerin Petra Stegmann an dieses Kapitel der Nachkriegsmoderne und die Staatsoper darf stolz darauf sein, einen gelungenen Beitrag zum Archiv geleistet zu haben.

Antworten auf die Frage, was neues Musiktheater heute sein könnte, waren daraus sicher nicht zu gewinnen. Es sei denn für Nostalgiker. Es hilft auch nichts, dass die Staatsoper ihr Festival wider besseres Wissen unter den Nebentitel „Fluxus reloaded“ gestellt hat.

Packpapier-Geräusche

Mehr als ein paar zerstreute Vorstellungen kamen dabei nicht heraus. Judith Hummel hat mit der Tänzerin Heidi Schnirch und dem Elektronik-Tüftler Lorenz Schuster „Papierdialoge“ inszeniert: Ein stille Meditation über die Geräusche von Packpapier. Sophia Simitzis griff mit dem Ensemble „Lux:nm“ auf die Trickkiste alter Fluxus-Propheten wie Nam June Paik, Ken Friedman oder George Brecht zurück. Auch Wolf Vostell und der Tiroler Samson Dietrich Sauerbier fanden Platz in ihrem fröhlich bunten Abend, der mit der Uraufführung „Cabinet des curiosités“ des jungen Komponisten Jef Chippewa zu Ende ging.

Genau das war das ganze Festival: Ein Kuriositätenkabinett. Unermüdlich versuchte Thomas Goerge, der Austatter und Begleiter von Christoph Schlingensief in dessen letzten Lebensjahren, mit seiner „Sisyphotischen Sykomoren Symphonie“ volle drei Wochen lang pünktlich um 18 Uhr einen roten Faden zu spinnen. Es gelang ihm nicht. Zu sehen waren endlose Videoschleifen mit Traktor, Bürostuhl, Würmern und Innenansichten von Verdauungsorganen, ergänzt um Liveaktionen — Nudeln kochen, Zertrümmern eines Flügels aus Pappkarton unter anderem. Lustig in der Regel, mehr aber auch nicht.

Unermüdlich versuchte Thomas Goerge mit seiner „Sisyphotischen Sykomoren Symphonie“ drei Wochen lang einen roten Faden zu spinnen

Der große Saal bleib leer. Reprisen mussten die Lücken füllen: „Footfalls/Neither“ von Beckett und Morton Feldman, „Rein Gold“ von Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann und „Matsukatze“ von Toshio Hosokawa und Sahsa Waltz. Erinnerungsarbeit in eigener Sache immerhin. Katie Mitchels kongeniale Realisation des eigentlich unmöglichen Opernprojekts von Morton Feldman verdiente ohnehin eine Aufnahme ins ständige Repertoire. Auch Jelineks Verbal­orgie hat über das vergangene Wagnerjahr hinaus ihren Reiz. Von Waltz und Hosokwa allerdings bleibt vor allem eine gefällige Beliebigkeit in Erinnerung, die Bedeutsamkeit erst vortäuscht und dann in kunstgewerblicher Perfektion erstickt.

Nebeninfektion Sasha Waltz

Aber an Sasha Waltz kommt kein Theater mehr vorbei. Neu auf dem Markt ist seit letzten Herbst ihre Version des „Orfeo“ von Claudio Monteverdi, koproduziert von gleich vier Bühnen in Europa: Amsterdam, Luxemburg, Bergen und Lille. Berlin war nicht dabei, aber weil die „Infektion!“ ohnehin mit Waltz enden sollte, kam auch Orfeo an die Staatsoper. Außerhalb des Festivals als Nebeninfektion.

Die Inszenierung des über 400 Jahre alten Werkes besteht in choreographischen Echos der handelnden Figuren. Manchmal entstehen hübsche Bilder, mehr nicht, wenn da nicht Georg Nigl wäre. Der Wiener Bariton kümmert sich nicht um die Ideen von Sasha Waltz, die es wahrscheinlich sowieso nicht gibt, wenn es um Personen geht. Nigl rapt und rockt diesen Orpheus über die Bühne, als gehe es darum, irgend eine Weddinger Streetgang davon zu überzeugen, dass Oper überhaupt das Größte ist, was es an Musik gibt.

Es ist faszinierend, ihm zuzuhören, und ein Hinweis auf das Problem des Festivals. Jahreszahlen wie 1961 („Originale“) oder 1607 („Orfeo“) bedeuten wenig für das postdramatische Theater von heute. Wichtig ist allein die Intensität und Glaubwürdigkeit der Ausführung auf der Bühne. Und darin ist Nigl einsame Spitze. Es stimmt alles, jede Note, jede Geste. Sogar die Manierismen des Freiburger BarockConsort am Spielfeldrand werden Teil seiner Person, die mythisch durch Himmel und Hölle geht.

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