: Der langeWeg zum Reisepass
WARTEN Berlins Bürgerämter sind überlastet. Zu wenig Personal für die wachsende Hauptstadt, so könnte man die Misere zusammenfassen. Mit einem Termin- und Wartemanagement versuchen die Bezirksämter dem Kundenansturm derweil gerecht zu werden – mit mäßigem Erfolg
Von Anna KlöpperFotos Anna Klöpper
Ein Donnerstagvormittag Ende Juni um 10:30 Uhr, eine halbe Stunde vor Dienstbeginn für Ronald Schiller. „Jetzt ist es zu spät“, sagt er beim Blick auf die Warteschlange. „Nehmen Sie mal lieber den Hinterausgang. Sonst rennen die mir vorne die Tür ein.“ Vor dem Weddinger Bürgeramt an der Osloer Straße reicht die Warteschlange bereits bis auf den Gehweg.
In der Schlange fragt eine junge Frau ihren Begleiter: „Sollen wir’s nochmal woanders probieren?“. Der Mann zuckt ratlos mit den Schultern. Wenn die beiden später vor die Eingangstür stehen, werden sie das Schild sehen können, auf dem steht: „Heute keine Termine mehr.“
Bürgerämter sind überlastet
Eine typische Berliner Szene, denn die Bürgerämter in der Hauptstadt sind überlastet: Zu wenig Personal für eine wachsende Stadt, so könnte man die Misere zusammenzufassen. Bis 2030 wird Berlin laut der jüngsten internen Schätzung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung des Senats um rund 400.000 EinwohnerInnen wachsen – knapp vier Millionen BürgerInnen werden dann schätzungsweise in der Hauptstadt leben.
Mehr Menschen also, die umziehen wollen, einen neuen Personalausweis brauchen oder ihren Reisepass verlängern müssen – und dabei auf immer weniger Personal in den 42 Bürgerämtern der Stadt treffen. Zwischen 2011 und 2014 hat Berlin rund 64 Vollzeitstellen in den Bürgerämtern abgebaut, 523 Vollzeitkräfte blieben übrig. Da lag die Bevölkerungsprognose des Senats bereits vor.
Das große Sparen – es begann in den 90ern. Nach der Wende fiel die Berlin-Zulage des Bundes weg, die desaströse Steuerpolitik tat ihr Übriges – Berlins Schuldenlast stieg. Die Arm-aber-sexy-Stadt ist seit Jahren pleite und muss sparen.
Vor allem bei den Mitarbeiterzahlen in der Verwaltung wurde ordentlich gekürzt: Lag die Zahl aller Beschäftigten im Landesdienst kurz vor der Jahrtausendwende noch bei knapp 160.000, waren es 2014 nur noch 110.000 BeamtInnen und Angestellte. Frei werdende Stellen von pensionierten MitarbeiterInnen werden nicht mehr nachbesetzt. Bis 2016, so die Vorgabe im Koalitionsvertrag von 2011, sollen es noch maximal 100.000 Beschäftigte sein. Ein „sinnloser, brachialer Abbau“ sei das, sagt der Grüne Bezirksstadtrat Stephan von Dassel, in Mitte für Bürgerdienste zuständig.
Zwar hat der Senat im kürzlich vorgestellten Doppelhaushalt 2016/17 beschlossen, dass für Verwaltungsbereiche, die besonders vom Bevölkerungswachstum betroffen sind, die Sparvorgaben aus dem alten Koalitionsvertrag nicht mehr gelten sollen – allein für die Bezirke gibt es sogar 300 zusätzliche Stellen. Doch entfallen auf die 42 Bürgerämter davon gerade mal 31 – das ist nicht einmal eine Vollzeitkraft pro Amt.
Sie sind Spontankunde? Gehen Sie Mittwochnachmittag zum Amt oder noch besser Mittwochvormittag. „Auf keinen Fall Donnerstagnachmittag“, rät Mittes Bezirksstadtrat Stephan von Dassel. Die taz rät: Gehen Sie einfach und bleiben Sie sitzen – wie die 200 anderen Wartenden vor Ihnen.
Sie sind Terminkunde? Am besten Sie installieren die Service-App der Bürgerämter auf dem Smartphone. Dann das Smartphone nicht aus den Augen lassen. Ist irgendwo irgendein Termin buchbar – tun Sie es. Zögern Sie bloß nicht.
Dieses ganze Online-Gedöns ist Ihnen irgendwie unheimlich? Sie wollen lieber am Bürgertelefon 115 mit einem richtigen Menschen sprechen? „Vergessen Sie es, da warten Sie ewig“, sagt der Neuköllner Bezirksstadtrat Thomas Blesing. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Sie sprechen gerne persönlich vor? Sehr gut, auch am Infotresen der Bürgerämter gibt es Termine. Für Leute mit zu viel Zeit durchaus eine Option.
Sie sind Notfallkunde? Glückwunsch, Sie brauchen keinen Termin – warten müssen Sie jedoch trotzdem. Notfallkunde ist wer eine neue Anwohnervignette braucht, seine Personaldokumente verloren hat oder am nächsten Tag verreist und keinen gültigen Pass besitzt. Den naheliegenden Tipp mit der Beantragung des Reisepasses einfach so lange zu warten, bis Sie Notfallkunde sind, wollen wir Ihnen ausdrücklich nicht geben. Darauf müssen Sie schon selbst kommen. (akl)
„Scheinheilig“, findet von Dassel zudem den Hinweis des Senats, die Bezirke könnten ja selbst entscheiden, wo sie stattdessen in der Verwaltung sparen wollen. Es gibt schlicht keinen Verwaltungsbereich, der nicht vom Bevölkerungswachstum betroffen sei.
Den Mangel verwalten
Von seinem Bürofenster aus hat Ronald Schiller die wachsende Stadt bestens im Blick, die sich da jeden Morgen vor dem Containerbau an der Osloer Straße aufreiht. 20 KollegInnen sind sie im Bürgeramt Wedding, fünf MitarbeiterInnen seien 2014 in Pension gegangen, erzählt der gelernte Verwaltungsbeamte – aber nur drei Neue sind gekommen.
Jetzt, vor den Sommerferien, machten sich der Raubbau am Personal einerseits und der Bevölkerungszuwachs andererseits besonders bemerkbar, sagt Ronald Schiller. „Da fällt den Leuten wie immer zu spät ein, dass sie noch den Reisepass verlängern müssen.“
Viele versuchen dann noch schnell einen Termin über das Online-Buchungssystem der Bürgerämter zu bekommen – und scheitern. Ein kleiner Selbstversuch der taz zeigt: Wer am 5. Juli einen Reisepass beantragen wollte, musste sich sechs Wochen lang gedulden. Erst am 19. August ist berlinweit ein einziger Vormittagstermin buchbar: am äußersten Stadtrand in Reinickendorf, im Bürgeramt Heiligensee. Mehr Auswahl gibt es wieder ab dem ersten September – doch sind die Schulferien in Berlin dann beinahe vorbei. Sechs bis acht Wochen wartet man derzeit also auf einen freien Termin. Vor drei Jahren seien es noch im Schnitt zwei Tage gewesen, sagt Verwaltungsbeamter Schiller.
Die Terminvergabe. Sie ist das zentrale Werkzeug, mit dem die Ämter den Mangel verwalten. Seit 2012 öffnen nur noch fünf Bezirke, darunter Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln, ihre Bürgerämter für sogenannte „Spontankunden“. In allen anderen, etwa in Mitte und Pankow, dringt man nur noch mit Termin bis zum Schreibtisch des Sachbearbeiters vor.
Wer einen Internetanschluss hat, kann diesen Termin online buchen – theoretisch zumindest. Immer nur sechs bis acht Wochen im Voraus werden Termine freigeschaltet, und die sind dann sofort ausgebucht. „Wenn wir 200 neue Termine online stellen, können Sie sicher sein, dass sie in zehn Minuten weg sind“, sagt Schiller.
Berliner sind geduldig
Das System für einen längeren Zeitraum freizuschalten würde aber keinen Sinn machen, sagt Bezirksstadtrat von Dassel. „Die Rückmeldung aus den Bürgerämtern ist: Zu Terminen, die mehr als acht Wochen Vorlauf haben, erscheinen die meisten gar nicht.“
Erstaunlich ist dennoch, wie geduldig sich die BerlinerInnen im Großen und Ganzen verwalten lassen. Dienstnachmittag, Rathaus Spandau, in diesem Bürgeramt werden nur Terminkunden bedient. Manuela K. hat ihren Personalausweis verloren und irrt durch die Gänge. Eigentlich buche sie ja immer vorher einen Termin, sagt die Spandauerin, „aber das ist jetzt ein Notfall“. Notfallkunden (s. Infokasten) werden tatsächlich in allen Ämtern auch ohne Termin bedient. „Vorsorglich“, sagt K., habe sie sich vorhin im Internet aber trotzdem „noch schnell ein paar Termine geblockt“ – der früheste ist im September. Manuela K. regt das nicht auf: „Dafür sitze ich später im Amt nicht mehr so lange rum.“
Weil viele Kunden seit der Einführung des Terminsystems relaxter sind, haben auch die Sachbearbeiter einen entspannteren Job. „Das Terminsystem hat den Druck rausgenommen“, sagt Ronald Schiller. „Die Leute sind entspannter, wenn sie nicht schon seit morgens halb fünf vorm Amt saßen.“ Er berichtet von Prügelszenen vor dem Bürgeramt, bevor das Terminsystem eingeführt wurde. Gerüchte von Händlern, die Wartemarken gegen Bares verkauften, möchte Schiller zwar nicht bestätigen. „Aber wenn da immer die gleichen Leute draußen rumstehen, dann denkt man sich natürlich seinen Teil.“
Damit spontane Kunden wie Manuela K. in Spandau das reguläre Terminsystem nicht doch wieder durcheinanderbringen, teile man sich auf, sagt Schiller. „Einer kümmert sich um die Notfallkunden, einer macht nur Berlin-Pässe (ein Teilhabepass für ALG-II-Bezieher, Anm. d. Red.), und die anderen bedienen die Terminkunden.“ Das sei eigentlich nicht so gewollt, sagt er. Denn falls kein Notfallkunde kommt, hätte der Kollege nichts zu tun. „Ist aber noch nie passiert“, sagt Schiller.
Hat das Terminsystem die Situation in den Berliner Amtsstuben also weitestgehend befriedet, gilt das nicht für den Empfangsbereich. Dort sammeln sich alle, die entweder Notfallkunden sind – oder schlicht am Terminvergabesystem der Ämter scheitern (s. Infokasten). Das Frustpotenzial ist entsprechend hoch: „Vor ein paar Tagen ist ein Vater ausgeflippt und hat mit Prügel gedroht“, berichtet Schiller. Die Tochter brauchte für ihren Reisepass ein biometrisches Foto – der aufgebrachte Vater wollte aber lieber das vom Schulfotografen nehmen.
Der Neuköllner Weg
Ein Mittwochmorgen vor dem Bürgeramt in der Donaustraße in Neukölln. Etwa 30 Köpfe zählt die Schlange, die da eine Viertelstunde vor Öffnungszeit auf Einlass wartet. Die Tür geht auf, eine Mitarbeiterin fragt: „Sind Sie alle aus Neukölln?“ Wer nickt, bekommt eine Wartenummer in die Hand gedrückt – alle anderen können nach Hause gehen. Oder sich auf gut Glück anstellen.
Die Neuköllner Bürgerämter haben die Terminpflicht nie eingeführt – dafür bedienen sie seit April diesen Jahres bevorzugt Neuköllner. Wer im Bezirk wohnt, kommt bei der morgendlichen Ausgabe des Wartenummernkontingents für den Tag zuerst dran. „Neukölln first“ heißt die Strategie, mit der Bezirksstadtrat Thomas Blesing (SPD) die Schlangen kurz halten will. Das funktioniere gut, sagt Blesing: Der „Termintourismus“ aus anderen Bezirken habe „spürbar nachgelassen“.
Kein Dienst nach Vorschrift
Ein findiges Termin- und Wartemarkenmanagement in den Bezirken und Mitarbeiter, die nicht nur Dienst nach Vorschrift machen, sorgen also dafür, dass das Chaos in geordneten Bahnen verläuft. Beinahe lässt dies vergessen, woran es eigentlich wirklich mangelt: an Personal. Zudem sind die mageren 31 zusätzlichen Stellen, die der kommende Doppelhaushalt 2016/17 aus dem Investitionsfonds Wachsende Stadt (SIWA) bestreiten will, lediglich auf zwei Jahre befristet. Ob die Finanzverwaltung vielleicht einfach hofft, dass die Stadt irgendwann wieder schrumpft?
Selbstverständlich nicht, sagt der zuständige Staatssekretär Klaus Feiler. Eine Arbeitsgruppe analysiere derzeit: „Ist es tatsächlich ein Stellenproblem? Oder gibt es vor allem organisatorische und technische Defizite?“
Termine in den Bürgerämtern sind begehrt. Das nutzen offenbar auch Geschäftemacher für ihre Zwecke aus:
So liegen der Senatsverwaltung für Inneres „Erkenntnisse über ein privates Internetangebot für einen kostenpflichtigen Terminbuchungsservice vor“. Das geht aus einer Antwort des Senats auf eine Piraten-Anfrage hervor. „Wir prüfen derzeit mögliche technische oder rechtliche Schritte“, so ein Senatssprecher.
Die dubiose Website arbeitet mit einem „intelligenten Algorithmus“, der nach einem freien Termin sucht und die zuvor übermittelten Daten der Kunden – gegen ein Entgelt – automatisch einträgt. Das Buchen von Bürgeramtsterminen ist eigentlich kostenfrei. (akl)
Tatsächlich berichtet der Verwaltungsbeamte Schiller von regelmäßigen Computerabstürzen, kaputten Druckern und elektronischen Unterschriftenpads, die nicht funktionieren. „Wenn man ohnehin nur maximal 12 Minuten pro Kunde hat und knapp besetzt ist, wird es eng mit der Terminplanung für den Tag“.
Im Herbst nun wolle sich die Arbeitsgruppe nochmal zusammensetzen, sagt Staatssekretär Feiler. „Wenn sich dann herausstellt, dass es doch am Personal liegt, haben wir überhaupt kein Problem damit, die Stellen zu entfristen.“
Und doch: Dies bliebe nur ein Herumlavieren am Symptom, nämlich dem der wachsenden Stadt. Eine wirklich nachhaltige Personalplanung, befand auch kürzlich die Opposition der Linken, sei mit dem Investitionsfonds nicht möglich.
Bleibt also noch der Geheimtipp von Staatssekretär Feiler: „Im Norden von Reinickendorf“, habe er gehört, „da soll es noch Termine geben.“
Mitarbeit: Franziska Maria Schade
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