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Archiv-Artikel

„Wir nähern uns der nackten Gewalt, der Barbarei“

Der Soziologe Michel Wieviorka sieht keine Partner in der Banlieue, mit denen der Staat über mögliche Lösungen verhandeln könnte

taz: Monsieur Wieviorka, sind Sie vom Ausmaß des Ausbruchs der Gewalt in den Vororten überrascht? War das vorauszusehen?

Michel Wieviorka: Ich bin beeindruckt. Wer hätte gedacht, dass Frankreich auf diese Art und Weise erschüttert werden könnte und während so langer Zeit? Das ist etwas völlig Neues von großer Bedeutung. Es hat früher schon Aufstände mit heftigen Auseinandersetzungen gegeben in der Banlieue von Lyon oder Paris, aber die dauerten eine Nacht oder höchstens zwei oder drei Tage und blieben auf einen Ort beschränkt. Meistens kam es dazu, weil es bei einer Polizeioperation ein Opfer gegeben hatte. Hier stehen wir vor einem anderen Phänomen.

Wer sind nun diese Jungen, die Autos und Schulen anzünden, und warum tun sie das?

Man sollte nicht meinen, dass für sie Zorn und Wut völlig absurd und ohne Ziel seien. Die Gewalt macht für sie durchaus Sinn. Sie verbrennen Privatautos, weil ihnen das Spaß macht, aber auch weil damit die Aufmerksamkeit der Medien zu erlangen ist. Und außerdem ist dies sehr einfach. Sie greifen Institutionen wie Schulen oder öffentliche Verkehrsmittel wie Busse sowie Feuerwehr und Polizei an, weil sie den Staat verkörpern. Hier haben wir es mit der Rage gegen den Staat zu tun, der seine Versprechen nicht gehalten hat.

Sie sagen, die Gewalt sei nicht total sinnlos, aber steckt eine Strategie oder ein Programm dahinter?

Nein, es gibt kein Programm, keine klaren Forderungen. Es handelt sich um eine Krise mit einer Form von Wutausbrüchen. Die schwierige Aufgabe besteht nun darin, mögliche Lösungen zu finden, über die man verhandeln kann. Dazu aber braucht es Partner. In diesen Quartieren aber gibt niemanden mehr, an den sich die Behörden wenden können, außer vielleicht den Imams der Moscheen.

Und sind die Jungen trotz ihrer Revolte nicht bereit zu diskutieren?

Die große Gefahr besteht darin, dass wir uns der Barbarei, das heißt der nackten Gewalt, nähern. Der Vorstellung, dass alles möglich ist, weil der Andere kein menschliches Individuum ist, sondern eine Sache, die man notfalls zur Seite schiebt. Diese nackte Gewalt entsteht dort, wo jede Form von Vermittlung, jede Moral und Ethik fehlen. Diese Jungen sind dermaßen in Rage, dass sie keinem Appell mehr Gehör schenken.

Treten in Frankreich demnächst Bürgerwehren auf den Plan, da der Staat vorerst ziemlich hilflos wirkt?

So etwas hat in Frankreich keine Tradition. Hingegen besteht das Risiko, dass sich Tragödien ereignen, dass beispielsweise ein Bürger, dessen Auto in Flammen steht, durchdreht und auf die Brandstifter schießt. Eine andere Gefahr besteht darin, dass die Medien die Situation verbal radikalisieren, indem sie von Bürgerkrieg und Belagerungszustand reden oder die Verhängung des Ausgehverbots verlangen.

Wie lange kann denn diese Krise andauern?

Das ist gegenwärtig völlig offen. Natürlich kann das nicht ewig so weitergehen. Die Frage ist, ob eine politische Antwort auf die Probleme kommt oder der Staat bloß mit Repression reagiert. Bis jetzt war das Vorgehen der Regierung sehr schwach. Der Staatspräsident hat nicht überzeugt, Innenminister Sarkozy hat nur wiederholt, was er schon gesagt hatte. Die Frage ist mehr, ob die Regierung einen politischen Ausgang findet, und nicht, ob sie die Armee einsetzt.

In der Banlieue warten die randalierenden Jugendlichen anscheinend auf eine Geste oder eine „Entschuldigung“. Ist so etwas vorstellbar?

Ich kann mir nun wirklich nicht vorstellen, dass Sarkozy seinen Rücktritt einreicht oder sich bei wem auch immer für seine Polizei entschuldigt. Er wird auf seinem Standpunkt beharren und die Krise ausschließlich aus dem Blickwinkel der Delinquenz analysieren. Dieser Aspekt existiert. Nur sieht er den ganzen Rest nicht: die Wut, das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein.

INTERVIEW: RUDOLF BALMER