Die Streitfrage: Den Wert der Demos nicht vergessen

Die Eltern des 2001 erschossenen Carlo Giuliani rufen dazu auf, beim G-7-Gipfel in Elmau zu demonstrieren. Entscheidend sei nur wie.

Demonstranten in Genua

Ein Jahr nach dem Tod von Carlo Giuliani demonstrierten in Genua mehrere zehntausend Menschen Foto: Reuters

Vor dem G-7-Gipfel in Elmau am nächsten Wochenende hat der Vater des 2001 in Genua getöteten Carlo Giuliani das Recht auf Demonstrationsfreiheit vehement verteidigt. „Für die eigenen Überzeugungen auf die Straße zu gehen, ist ein Recht eines jeden Landes, das sich demokratisch nennt, und das muss auch so bleiben“, fordert Giuliano Giuliani.

Die Arbeit der eigenen NGO, Comitato Piazza Carlo Giuliani, ist für Haidi Gaggio und Giuliano Giuliani zum wichtigsten Mittel geworden, ihren Widerspruch auszudrücken. Während des G8-Gipfels in Genua im Jahr 2001 starb ihr Sohn Carlo, mit 23 Jahren. Bei Ausschreitungen zwischen Polizei und Protestierenden wurde Carlo Giuliani von einem Carabiniere erschossen. Seine Eltern setzen sich seither dafür ein, Behinderte besser zu versorgen, sammelten Geld für ein Krankenhaus in Kabul und halfen eine Schule in der Westsahara zu finanzieren. „Seit vierzehn Jahren beschäftigen wir uns auf die eine oder andere Art mit Themen, die mit Widerstand und Unterdrückung zu tun haben“, schreibt Carlos Mutter Haidi, die von 2006 bis 2008 für die linke Rifondazione Comunista im italienischen Senat saß.

Entscheidend sei aber, wie man demonstriert, schreibt Giuliano Giuliani. Immer wieder mischten sich unter friedfertige Demonstrierende auch Grüppchen, die nur auf Zerstörung aus seien. Das Problem: Deren Aktionen führten dazu, dass in der öffentlichen Diskussion nur über Schaden und Aggression gesprochen werde, und die eigentlichen Anliegen der Gegner in Vergessenheit gerieten. „Der Wert demokratischer Demos wird dadurch vergessen“, schreibt Giuliani.

Der Absperrzaun um das Tagungshotel Schloß Elmau ist 14 Kilometer lang. Am 7. und 8. Juni soll er für Sicherheit sorgen – und die Demonstranten vom G7-Gipfel fernhalten. Der Widerstand gegen das Treffen der sieben mächtigsten Regierungschefs wird – unter anderem wegen der Sicherheitsvorkehrungen und weil Elmau abgeschieden in den Bergen liegt – wohl längst nicht so groß ausfallen wie 2007 in Heiligendamm, beim letzten Gipfeltreffen in Deutschland. Ein Protestcamp wurde verboten, der Zaun hält Gipfelgegner fern. Außerdem steht das Hotel mitten im Naturschutzgebiet. Die Demos finden im nahen Garmisch-Partenkirchen und in München statt, jedenfalls nicht direkt am Zaun.

Wer sich seine Wohnung nicht mehr leisten kann, landet nicht immer am Stadtrand – aber meist in einem anderen Leben. Was passiert, wenn Menschen ihr Viertel verlassen müssen? Und was bringt die Mietpreisbremse? Die Titelgeschichte "Wo die Verdrängten heute wohnen" lesen Sie in der taz.am wochenende vom 30./31. Mai 2015. Außerdem: Im bayerischen Elmau treffen sich sieben Staats- und Regierungschefs, die gern in der Welt den Ton angeben. Soll man gegen G7 protestieren? Und: Dirk van Gunsteren überträgt die großen amerikanischen Romanciers ins Deutsche. Ein Gespräch über Thomas Pynchons Männerfantasien und über Romane, die Geschichtsbücher sind. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

“Elmau ist der falsche Ort für einen Gipfel – das hält die Natur nicht aus“, schreibt Grünen-Politikerin und Landtagsabgeordnete Claudia Stamm. Widerspruch hält Stamm dennoch für sinnvoll. Dass das Treffen im abgeschiedenen Naturschutzgebiet stattfindet, ist für sie Kalkül: „Im Moment kriminalisiert man den Protest vorab, und mit der Wahl des Ortes hat man den hör- und sichtbaren Protest unmöglich gemacht.“

Hör- und sichtbar sollten die Gegner auch nach Ansicht der Protestforscherin Jasmina Gherairi sein. „Wer die G-8/G-7-Politik nicht widerspruchslos akzeptiert, soll diese Kritik im öffentlichen Raum den Machthabern lautstark und offensichtlich anzeigen“, schreibt die Autorin des Buches “Persuasion durch Protest“. Nach Heiligendamm – auch geprägt von einem großen Popkonzert mit Herbert Grönemeyer, Bono und Bob Geldof – bemängelten Kritiker, die Demos seien zur reinen Spaßveranstaltungen geworden. Gherari hält entgegen: „Witz und Raffinesse einzusetzen, schmälert weder das Anliegen der Protestierenden noch die Aufmerksamkeit der Massenmedien.“

Manch Demonstrant ist mittlerweile ernüchtert: Immer wieder finden die Gipfel statt, immer wieder gibt es Protest dagegen, doch geändert hat sich wenig. Hat es da nicht mehr Sinn, konstruktiv etwas zu verändern, durch die Arbeit in Nichtregierungsorganisationen etwa? Aber: „Die Arbeit der NGO’s kann den Protest im öffentlichen Raum nicht ersetzen, wenn dann nur begleiten“, schreibt Gherairi.

Wer sich gegen das Treffen in Elmau stellt, kämpft für genau diesen Wert, meint auch taz-Leser Dennis Boysen. „Es wird nicht nur gegen die Praxis der Gruppe der sieben demonstriert, sondern auch ganz klar für das vielfach festgeschriebene Grundrecht auf Versammlungsfreiheit“, schreibt er per Mail.

Als Vertreter des globalisierungskritischen Netzwerks liefert Thomas Eberhardt-Köster weitere Gründe zum Demonstrieren. „Merkel will das G7-Treffen als Werbeveranstaltung für ihre umweltschädliche und Armut schaffende Freihandelspolitik nutzen“, schreibt er. Wer TTIP, CETA und TISA ablehnt, sollte also den Gipfel für seinen Protest nutzen, so Eberhardt-Köster. Und Grünen-Abgeordnete Stamm gibt zu Bedenken: „Dialog unter den Mächtigsten ist wichtig – doch war es dann richtig, Putin auszuladen?“

Lauter Gründe zum Protest also? In der taz.am wochenende vom 30./31. Mai 2015 lesen Sie, was der bayerische Landespolizeipräsident Wilhelm Schmidbauer, die Bürgermeisterin von Garmisch-Partenkirchen Sigrid Meierhofer und der Naturschützer Axel Doering zu unserer Streitfrage sagen. Außerdem diskutierten Globalisierungskritiker Peter Wahl, Protestforscherin Britta Baumgarten und taz-Leserin Peggy Welsch mit.

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